Zwei Menschen hätten gerettet werden können

■ Ahmet Ince, Überlebender des Solinger Brandanschlages, sagte erstmals vor Gericht als Zeuge aus / Schwere Vorwürfe an die Feuerwehr

Düsseldorf (taz) – Ahmet Ince beantwortet die Frage des Vorsitzenden Richters Wolfgang Steffen – „Sind Sie in der Lage sich vernehmen zu lassen?“ – mit einem deutlichen Ja. Eingerahmt von zwei Dolmetschern und seinem Rechtsbeistand beginnt der 32jährige „die schrecklichen Stunden, die hier im Raum stehen“, so Richter Steffen, zu schildern. Mit seiner Frau Gürsün, der Tochter von Mevlüde und Durmuș Genc, seiner zwei Jahre und elf Monate alten Tochter Güldane und der zwölfjährigen Gülistan Öztürk, einer in Solingen zu Besuch weilenden Nichte seiner Frau, befand sich Ahmet Ince während der Brandnacht in der Dachgeschoßwohnung des Hauses der Familie Genc. „Ich bin von Schreien und Lärm wachgeworden und zum Fenster gelaufen.“ Leise, bleich, preßt er die Worte hervor, bevor ihm die Stimme versagt. Der Mann, der in dieser Nacht seine Frau verloren hat, dessen Kind Verbrennungen zweiten Grades an Gesicht und Händen und einen Oberschenkelbruch erlitt, weint, ringt nach Worten und will doch weiter aussagen. Von der angebotenen Pause macht der Zeuge keinen Gebrauch. Richter Steffen hatte den Angehörigen der Opfer schon Anfang September zugesichert, sich zu bemühen, ihnen bei den Vernehmungen „jede vermeidbare Pein zu ersparen“. Der Vorsitzende, der den Prozeß bisher umsichtig und einfühlsam geführt hat, weiß, was er diesen Zeugen abverlangt: „Es ist uns bewußt, daß Sie die schweren Qualen der Tatnacht noch einmal durchleiden, ich wünsche Ihnen, daß Sie die Kraft aufbringen, die die Rolle als Zeuge verlangt.“

Ahmet Ince gelang es gestern auszusagen. Wegen des starken Rauches im Treppenhaus, so schildert er die entscheidenden Minuten, „blieb uns nur noch das Fenster. Es war fürchterlich.“ Er selbst habe sich durch das Fenster am Haus runtergelassen. „Ich habe meiner Frau gesagt, daß sie das Kind runterlassen könne. Sie hat Angst bekommen und weder das Kind runtergelassen, noch ist sie selbst gesprungen.“ Seine Frau sei dann mit dem Kind im Arm in Panik aus dem Fenster „gefallen, nicht gesprungen“. Während die 27jährige an den schweren Sturzverletzungen starb, überlebte ihre Tochter Güldane schwerverletzt. Vor ihrem Sturz in die Tiefe erlitt die Mutter schwerste Verbrennungen. Auch Gülistan Öztürk fand durch den Brandanschlag den Tod. Sie starb an Rauchvergiftung und Hitzeeinwirkung. Nach Auffassung von Ahmet Ince hätte die Nichte, ebenso wie seine Frau, gerettet werden können, „wenn die Feuerwehr an der Stelle, an der ich mich befand, einen Einsatz gemacht hätte“.

Die Feuerwehr selbst, die fünf Minuten nach dem ersten Anruf am Brandort eingetroffen war, hat jedes Fehlverhalten immer zurückgewiesen. Sicher ist, daß das erste Einsatzfahrzeug kein Sprungtuch oder Luftkissen mit sich führte. Von einer Panne will man bei der Feuerwehr gleichwohl nichts wissen: Bis zum Zeitpunkt des tödlichen Sprunges, so argumentiert die Feuerwehr, hätte man das später herbeigeschaffte Kissen unter keinem Umständen in die richtige Position bringen können. Doch Ahmed Ince bleibt dabei: Zu 99 Prozent sei er sich sicher, daß es die Möglichkeit der Rettung gegeben hätte, wenn die anwesende Feuerwehr ein Sprungtuch aufgespannt hätte. Walter Jakobs