Der letzte Linksaußen

■ Charly Dörfel wird 55 / Vom HSV schied er im Zorn / Ein Clown, der mehr war als nur der Flankengeber von Uwe Seeler

Auf Linksaußen ist es ruhig geworden. Im Fußball war diese Position lange den Originalen und Käuzen vorbehalten, Spielerpersönlichkeiten, wie man sie heute im angepaßten, seelenlosen Bundesliga-Geschäft schwerlich findet.

Einer, der sich beim Hamburger Sportverein vorne links Kultstatus erdribbelte, ist Gert Dörfel, der am 18. September 55 wird. Gert, den alle nur „Charly“ riefen, gehörte zu den Künstlern auf dem grünen Rasen: Das Publikum huldigte dem Leichtfüßigen für seine unwiderstehliche Art, den Ballsport zu zelebrieren. Trickreich, unberechenbar und schußgewaltig stürmte Charly an der Außenlinie.

Dem weisen Fußball-Oberlehrer Sepp Herberger blieb Dörfels Klasse nicht verborgen. 1960 berief er den 20jährigen ins DFB-Team. Herbergers Nachfolger Helmut Schön konnte mit dem Unbekümmerten aber weniger gut. Nach nur elf Inszenierungen war Dörfels internationale Bühnenschau beendet. Geharnischt sein Urteil über den DFB-Übungsleiter: „An dem bin ich gescheitert. Kein großer Trainer. Die 74er-Weltmeister-Mannschaft hätte jeder trainieren können.“

Freilich scheiterte er nicht allein an Schön, sondern auch an seiner unverzagt agierenden Zunge. Aber Schweigen? Dazu gefiel sich Charly viel zu sehr in der Pose des fröhlich-naiven Draufgängers.

Auch außerhalb des Rasens wußte sich der Extrovertierte in Szene zu setzen. Wenn er im Mannschaftsbus mit Falsettstimme die aktuelle Schlagerparade interpretierte, nackt am Klavier spielte oder mit dem Messer auf der Nase jonglierte – bei Charly war Entertainment Programm. Selbst Helmut Schön griff bei dicker Luft im DFB-Team auf Dörfel zurück: „Charly, mach' mal Ente.“ Der mimte das Tier und die Verhärmten durften wieder relaxen.

Undenkbar die Deutsche Meisterschaft 1960 und drei Spielzeiten später der Pokalsieg des HSV ohne Dörfels Tore und Flanken. Mit diesen krummen Dingern, punktgenau auf den Kopf von „Uns Uwe“ Seeler gezogen, narrte er so manche Hintermannschaft. Seine schüttere Haarpracht und eine gehörige Portion Eitelkeit bewogen den „besten Linksaußen Europas“, so die französische Sportzeitung L'Equipe, in der Flower-Power-Periode zum Tragen eines Toupets. Angeblich verlockte das adrette Kunsthaargeschmeide manchen Widersacher zum frechen Griff. Motivation genug für Charly, den Gegenspieler noch schneller zu düpieren.

1972 schied Dörfel im Unfrieden vom HSV. Über ein Jahrzehnt hatte der Publikumsliebling konkurrenzlos gedribbelt und geulkt. Trainer Klaus Ochs (“teilweise unvermögend“) wagte es, mit Schorsch Volkert einen Rivalen für Dörfels Position einzukaufen. Der 32jährige reagierte gekränkt, reklamierte ungehalten und wurde gegangen. „Man hat mich praktisch rausgeekelt“, klagt er.

Abrupt endete die Show. Zurück blieb ein deprimierter Fußball-Clown, den existentielle Nöte plagten. So gewitzt Dörfel auch auf dem Platz handelte, im richtigen Leben war er nicht clever genug, seine Laufbahn zu vergolden, wie etwa die geschäftstüchtig-solide Werbesäule Seeler. Das Image des Komikers war Charly nicht dienlich beim Versuch, sich eine neue Existenz aufzubauen: „Man hat mich nicht ernst genommen.“ Dörfel verließ das kalte Hamburg und tingelte balltretend fünf Jahre durch Südafrika und Kanada.

Heute arbeitet er als Kuckuckskleber beim Ortsamt Stellingen. Beim Vollstrecken, da hatte er halt schon immer seine Qualitäten. Das Geschehen um den runden Ball verfolgt Dörfel aus der Distanz. „Der reine Kommerz. Die Bundesliga muß aufpassen, daß sie nicht daran scheitert.“ Das gestörte Verhältnis zu dem Verein, für den er rund 850 Spiele absolvierte, hat sich nicht mehr erholt: „Der HSV und ich, wir sind geschiedene Leute.“ Rainer Schäfer