: Rest-Schönheit einer Landschaft
■ Traumreise durch Baden und Württemberg mit Blickfeldverengung
In Häfnerhaslach, einem ehedem württembergischen Ort unweit der Grenze zu Baden, sei einmal, so wird erzählt, ein alter Mann im Sterben gelegen. Von der Frau des Pfarrers mit den Worten getröstet, er gehe nun hinüber in ein anderes, besseres Land, habe der Mann seine letzte Kraft zusammengenommen und gesagt, ihm sei gleich, in welches Land er komme, wenn's nur nicht Baden sei.
Die Geschichte, die es natürlich auch in der umgekehrten Version gibt, findet sich in einem soeben erschienenen Prachtband mit dem „Baden-Württemberg – Landschaft und Kultur im Südwesten“. Für den Textautor, den bis vor kurzem in Tübingen lehrenden Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger, ist sie nur ein Beleg dafür, daß es eine eigentliche „Baden- Württemberg-Identität“ in dem erst nach dem Zweiten Weltkrieg als „Kunstprodukt“ aus der Vereinigung von Baden, Württemberg und Hohenzollern geschaffenen Bundesland noch immer kaum gibt. Noch immer wirken da offenbar die unterschiedlichsten historischen Strukturen und Formationen einer kulturell, politisch und konfessionell einst überaus heterogenen Physiognomie des Landes nach.
Grenzen und Unterschiede, die in oft subtiler Weise in die „Legierung“ namens Baden-Württemberg eingegangen sind. Bausinger nähert sich dieser Legierung, indem er den Begriff der „Landschaft“ nach den verschiedensten Seiten hin auffächert und den Leser mit Stadt- und Universitätslandschaften, mit Agrar- und Gewerbelandschaften, aber auch mit Museumslandschaften, Landschaften der Volkskultur, der Mentalitäten und des geistigen Schaffens konfrontiert.
In diesen Texten ist auch die schlichte Tatsache nachzulesen, daß gegenwärtig drei Viertel der baden-württembergischen Bevölkerung auf nur einem Drittel der Fläche des Landes leben – in den Ballungsräumen um Stuttgart, Freiburg, Karlsruhe und Mannheim. Doch diese industriellen Verdichtungs- und Ballungsräume und damit wohl doch zentrale Lebenswirklichkeiten des Landes sind Sache des Bildautors und Fotografen Werner Richner nicht. Von den 112 Aufnahmen des Bandes widmen sich ganze zwei erkennbar dem Thema „Großstadt und Verdichtungsraum“. Immerhin 37 hingegen zeigen Kirchen und Klöster, Schlösser und Burgen, weitere 44 haben ländlich geprägte Kleinstädte und historische Altstädte, dörfliche Lebenswelten und unberührte Landschaften zum Thema. Wer da blättert, wird auf Autobahnen und Atomreaktoren, Ausländer und Arbeitslose, auf „Asylanten“ gar und Abschiebelager schwerlich stoßen. Oder vielmehr: KäuferInnen solcher Bände werden Motive dieser Art dort vermutlich gar nicht erst suchen.
Diese Blickfeldverengung verweist auf ältere Traditionen von Landschaftsmalerei, Naturlyrik und Naturbeschreibungen, welche selbst noch in der Phase der Hochindustrialisierung die bereits im Untergang begriffene „intakte“ Kulturlandschaft beschworen. Die eigentlichen Industrielandschaften hingegen wurden stets als „Unland“ behandelt und ästhetisch ausgeblendet.
Auch wenn Richners Fotografien durchaus sensibel machen für die vielfältigen Stimmungen von Himmel und Witterung, für die Geometrie von Licht und Schatten, auch wenn sie oft ungewöhnliche Perspektiven verbinden mit dem Blick für das häufig übersehene Detail – in der Zusammenschau addieren sich seine Sujets und Motive am Ende doch zu einer „Traumreise“ durch Baden-Württemberg, die hinter dem Facettenreichtum der Texte zurückbleibt. Das Land wird gesehen aus der Freizeit- und Ferienperspektive.
Menschen bei der Arbeit? Fehlanzeige! Gemach – drei Aufnahmen finden sich dennoch: eine alte Bäuerin, welche die Reben in ihrem üppigen Hausgarten noch im Handbetrieb spritzt, zwei Bodenseefischer bei der Ausfahrt mit ihrem Ruderboot, der bärtige Bauer eines abgelegenen Schwarzwaldhofes, dessen Gesicht und skeptischer Blick von der harten Existenz einsamen Daseins künden. Solche Bilder haben zwar wenig mit den Realitäten der modernen Landwirtschaft, um so mehr aber mit den Sehbedürfnissen des touristischen Publikums zu tun: Mit der Sehnsucht nach der angeblich heilen, weil vorindustriellen Welt.
Möglicherweise, schreibt Hermann Bausinger, ist Baden-Württemberg mit rund elfhundert Museen das museumsreichste Land der Bundesrepublik. Die Museen versuchen zu kompensieren, indem sie konservieren, was im Alltag unwiederbringlich verlorengegangen ist. Vielleicht haben auch Bildbände eine solche Aufgabe der Kompensation: durch die Zusammenschau der noch verbliebenen „Rest-Schönheiten“ einer Landschaft hinwegzutrösten über deren reale Deformation und Zerstörung. Werner Trapp
Hermann Bausinger, Werner Richner: „Baden-Württemberg – Landschaft und Kultur im Südwesten“, Verlag G. Braun, Karlsruhe 1994, 176 Seiten, 98 DM
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