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Jungle Music und Politik

Zum 29. Mal fand in London der afro-karibische Karneval statt. Der „Jump-up“ in Notting Hill wird inzwischen als nationales Ereignis akzeptiert  ■ Von Nini Accra

Tanz in den Straßen – Genießen Sie Open-air-London mit der U-Bahn!“ So wirbt die London Underground Limited auf grellen Farbplakaten für das „größte Straßenfest Europas“, den „Notting Hill Carnival“. Fast zwei Millionen Gäste reisten extra zum „Bank Holiday“ nach London. Die Vergnügungssüchtigen kommen aus ganz England und vom europäischen Festland. Erwartungsvoll pilgern sie durch das unscheinbare „Borough of Kensington und Chelsea“.

Inzwischen scheint ganz England den „Carnival“ als „nationales Ereignis“ zu akzeptieren – und vereinnahmen zu wollen. Alternative Stadtillustrierte wie das Time Out Magazine, ehrwürdige Radio- und Fernsehstationen, aber auch Postillen wie der Evening Standard werben überall mit vermeintlich exklusiven Informationen für das zweitägige Spektakel. Selbst der konservative englische Premierminister ließ verlauten, daß der Karneval „eine einzigartige Bereicherung unseres kulturellen Lebens und unseres multikulturellen Erbes darstellt“.

Für englische Gaumen ungewohnt gut

Wenngleich inzwischen auch Städte wie Birmingham, Manchester, Leeds und Bristol – dank ihrer hohen afro-karibischen Bevölkerungsanteile – einen eigenen Karneval besitzen, so bleibt das Londoner Ereignis einzigartig: Auf saftige elf Millionen Pfund wird der Wochenendumsatz des Superfestivals geschätzt. Eine in jeder Hinsicht bedeutende Einnahme für die rezessionsgebeutelte Stadt. Je näher der Tag rückt, um so mehr entdecken letztere denn auch ihre unternehmerischen Talente: Schuljungen verkaufen Trillerpfeifen auf den U-Bahnhöfen; ganze Familien stehen tagelang in ihren Küchen und bereiten – je nach Herkunft und Geschmack – indische Samosas, jamaikanische Patties, Hot Rotis oder für englische Gaumen ungewohnt schmackhaft marinierte Hühnerteile vor.

Pünktlich zum Fest werden Vorgärten zu dampfenden Grillständen umfunktioniert, Getränke aus offenen Wohnzimmerfenstern verscherbelt, Kokosnüsse und frisches Zuckerrohr am Straßenrand feilgeboten. Selbst Häuserdächer sind plötzlich als Zuschauertribünen ausgebaut. Doch die wirkliche Arbeit steckt in den floats, den auf riesigen Gefährten durch die Stadt ziehenden Karnevalsprozessionen. Sie werden von mehr als zwanzig Karnevalsbands, die unter illustren Namen wie „Desgign in Mind“ oder „Flamboyan“ auftreten, begleitet. Ihre mas, die phantasievollen Kostümshows, machen den eigentlichen Charakter der Festivität aus. Monatelang zuvor beginnen Entwurf und Herstellung der Kostüme.

Der jährliche Wettbewerb („Pan-Competition“) der lokalen Steelbands gehört ebenso zum Karneval wie die ungebremste Beteiligung der Zuschauer. Eine Mischung aus Lebenslust und humorvoller Sozialkritik. Schon am frühen Morgen ergänzen Stände mit rot-gelb-grünen Anhängern, bunten T-Shirts und grobgestrickten Rastamützen das gewohnte Straßenbild im westlichen Stadtteil rund um Notting Hill Gate. Zur gleichen Zeit sind bereits über vierzig verschiedene „Soundsystems“ mit dem Aufbau ihrer gewaltigen Musikanlagen beschäftigt. Vor ihren Lautsprechertürmen versammeln sich später Hunderte Tanzwütiger, die für den farbenprächtigen Karnevalsumzug an der nächsten Straßenecke oft nur ein müdes Lächeln übrig haben.

Mittags beherrschen bereits ausgefallene Frisuren, schrille Outfits und ernsthafte „Bobbies“ die Gegend zwischen Portobello Road und Ladbroke Grove. Zwischen den engen Straßen donnern die Bässe der mobilen Diskotheken. Verschiedene Interpreten des Reggae, des britischen Soul und der aktuellen „Jungle Music“ wetteifern mit eitlen DJs um die Gunst der Zuhörer. Wie in Trance wanken die Menschen zwischen Musik- und Verkaufsständen hin und her. Schwarz und Weiß, Jung und Alt.

Die Einwanderer aus Trinidad, wo der Karneval wie in keinem anderen Land der Karibik zur Kultur gehört, mußten sich ihr jährliches Fest schwer erkämpfen: Schon im Trinidad des 19. Jahrhunderts setzten sich rebellierende Sklaven über die gesetzlichen Verbote ihrer Herren hinweg und verwandelten das dekadente, aristokratische Karnevalsereignis in ein demokratisches Volksfest mit afrikanischem Charakter.

Ein Jahrhundert später galt es in England, neue Hürden zu überspringen. Hier waren es vor allem Beschwerden von konservativen weißen Anwohnern über den „unerträglichen Lärm und die unzähligen Taschendiebe“. Gefährdet war er aber auch durch periodische Drohungen von rechtsextremen Gewalttätern sowie die allgegenwärtige Polizeipräsenz, die die Zukunft des Festivals in den siebziger und achtziger Jahren immer wieder in Frage stellten. Doch es gab auch kritische Stimmen aus den eigenen Reihen. Sie hielten eine erfolgreiche Transplantation des „karibischen Kultursymbols“ ins trostlose England für unmöglich.

1976 endete der Karneval in schweren Auseinandersetzungen zwischen schwarzen Jugendlichen und der Polizei. In den Folgejahren wuchs zwar die Zahl der Karnevalisten stetig an, doch die angespannte Atmosphäre und eine überaus rigide Polizeitaktik nahmen dem Fest viel von seinem spontanen Charakter. Der Tiefpunkt wurde 1989 erreicht. Das afro-karibische Spektakel degenerierte damals zu einem reinen „Police Carnival“.

Karneval, abgesperrt hinter Mauern?

Heute scheint der Karneval als kulturelles Aushängeschild einer dauerhaften afro-karibischen Präsenz in England unumstritten zu sein. Die Polizeiführung hält sich nun im Hintergrund. Die Organisatoren des Festivals einigten sich mit den Behörden für 1994 erstmals auf eine „neue Form der versteckten polizeilichen Reglementierung“: eine obligatorische Registrierung der teilnehmenden Musikgruppen, eine akribische Lautstärkenkontrolle und ein streng begrenzter Zeitplan sind das Ergebnis.

Manche sehen darin eine starke Zäsur: auch diese vergleichsweise milden polizeilichen Kontrollmaßnahmen nähmen dem Kulturereignis seine ursprüngliche Vitalität. Politische Gruppierungen wie die „Association for a People's Carnival“ werfen der für die Organisation verantwortlichen „Notting Hill Carnival Ltd.“ (NCL) vor, sie sei alles andere als eine unabhängige Organisation. Vielmehr würde die fortschreitende Entmündigung der einfachen Leute langfristig zu einer weiteren Kommerzialisierung des Karnevals führen. Eine zunehmende staatliche Kontrolle des „wichtigsten jährlichen Ereignisses der schwarzen Briten“ spiele außerdem konservativen Politikern in die Hände, die seit Jahren das hohe Sicherheitsrisiko bemängeln und eine Verlegung des Festivals in ein Stadion fordern.

In der Tat, den karibischen Karneval übermäßig reglementieren zu wollen hieße, ihn zu zerstören. Als am zweiten Karnevalstag berittene Polizisten die Massen von verstopften Straßenzügen fernhalten wollen, gibt es Zwischenrufe und böse Mienen. Eine dreiköpfige Gruppe von jungen Frauen will sich ihre Freude am „Jump-up“ aber nicht nehmen lassen: Sie mißachten bewußt das Verbot – über einen Zaun und durch einen Garten gelangen sie an den Ort ihrer Wahl: den Karnevalszug der „People's War Band“.

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