: Appelle machen keine Azubis
Die duale Ausbildung gewährleistet die freie Berufswahl nicht mehr / Betriebe ohne Auszubildende sollen eine Umlage zahlen, meint der ÖTVler ■ Lothar Altvater
Nur die Arbeitgeber können im dualen Ausbildungssystem Lehrstellen anbieten. Die privaten wie die öffentlichen Arbeitgeber aber kommen ihrer Ausbildungsverpflichtung als gesellschaftliche Gruppe gegenwärtig nicht in ausreichendem Maße nach. Das gilt vor allem für Ostdeutschland. Jahr für Jahr registrieren die Arbeitsämter eine riesige Lücke zwischen den angebotenen betrieblichen Ausbildungsstellen und den gemeldeten Bewerbern. Eine Lücke, die nur zum geringeren Teil durch öffentlich finanzierte ergänzende Angebote außerbetrieblicher – damit systemwidriger – Ausbildungsstellen geschlossen werden kann. Ende Juli dieses Jahres standen 163.000 BewerberInnen in den neuen Ländern nur 81.000 betriebliche Ausbildungsplätze gegenüber. Auf 100 BewerberInnen kommen also nur 50 Stellen. Das bedeutet, daß das duale System der Berufsausbildung es den ostdeutschen Jugendlichen gegenwärtig nicht ermöglicht, das ihnen zustehende Grundrecht der freien Berufswahl auszuüben.
Auch in Westdeutschland ist die Funktionsfähigkeit des dualen Ausbildungssystems in Frage gestellt. Seit 1992 sinkt die Zahl der gemeldeten Lehrstellen stetig – von 722.000 auf rund 550.000 im September 1994. Bei den gemeldeten Bewerbern steigt die Zahl 1994 aber voraussichtlich auf 450.000. Zwar entfielen damit Ende Juli 1994 auf 100 Bewerber in Westdeutschland noch 128 Stellen. Nach Regionen und Berufsgruppen differenziert betrachtet, sieht man aber, daß die Berufswahlchancen der westdeutschen Jugendlichen bereits erheblich eingeschränkt sind.
Ein Blick auf die Ausbildungsleistungen des öffentlichen Dienstes zeigt, wie wenig Appelle geeignet sind, die Ausbildungsbereitschaft der Arbeitgeber zu stärken. Der Anteil der Auszubildenden an den Vollzeitbeschäftigten liegt im Osten der Republik mit 3 Prozent bislang nur halb so hoch wie im Westen. Trotz dieser Defizite ist jedoch nicht erkennbar, daß die ostdeutschen öffentlichen Arbeitgeber ihr Ausbildungsplatzangebot im Vergleich zum Vorjahr erhöht hätten. Erste statistische Daten sprechen vielmehr für das Gegenteil. Zum Beispiel lag das Angebot an Ausbildungsstellen für Verwaltungsfachangestellte 1994 um fast 20 Prozent unter dem des Vorjahres. Im Westen ist das nicht anders: Von 1993 auf 1994 ist hier ein Rückgang von 15 Prozent zu beobachten. Damit bestätigt sich, daß insbesondere die westdeutschen Kommunen Ausbildungsplätze drastisch abbauen.
Kurzfristige betriebswirtschaftliche Aspekte bestimmen die ungenügende Ausbildungsbereitschaft der öffentlichen Arbeitgeber. Dies widerspricht dem Ziel der längerfristig notwendigen Heranbildung qualifizierten Nachwuchses. Und auch die Vorbildfunktion ist dahin, die dem öffentlichen Dienst im Hinblick auf das Ausbildungsverhalten der privaten Wirtschaft zukommt. Der Konjunkturabhängigkeit der betrieblichen Ausbildung kann nur dadurch wirksam begegnet werden, daß die einzelbetriebliche Finanzierung durch eine überbetriebliche Umlage ergänzt wird. Ein geeignetes Instrument wäre dafür eine von den Arbeitgebern zu erhebende Berufsausbildungsabgabe. Sie könnte dazu dienen, Hilfen zu finanzieren, die Ausbildungsplätze halten und zusätzliche schaffen können.
Der Autor leitet das Referat Berufliche Bildung beim Hauptvorstand der Gewerkschaft ÖTV.
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