Drama der Erinnerung

Eine Ausstellung über „Mahnmale des Holocaust: Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens“  ■ Von Mariam Niroumand

Einen ganzseitigen Bericht auf der allerheiligsten Seite 1 hatte die New York Times der Ausstellung gewidmet, die nun dankenswerterweise im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen ist. Nie zuvor war so enzyklopädisch über die Manifestationen der öffentlichen Erinnerung berichtet, nie so viel disparates Material angehäuft worden wie in „Mahnmale des Holocaust“, einer Ausstellung, die der amerikanische Judaistik-Professor James Young für das jüdische Museum New Yorks konzipiert hatte.

Young, der seit über zehn Jahren Mahnmale, Grabsteine, Bücher und Filme beschreibt, war der erste, der die ästhetische Qualität derartiger Zeugnisse untersucht hatte – ein bis dahin strikt gewahrtes Tabu. Dabei war er auf die kühne Idee verfallen, daß – stellt man die Geschwätzigkeit einiger Gedenkstätten einmal für kurze Zeit still — die öffentlichen Manifestationen des Erinnerns ihren Gegenstand überhaupt erst erzeugen.

So sind auf dem Bronzerelief, das der polnische Bildhauer von Nathan Rapoport zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto anfertigte (und vor dem Willy Brandt dann Jahrzehnte später kniete) kraftstrotzende, vorwärtsgewandte Figuren zu sehen, die halb dem Sozialistischen Realismus, halb einem antikisierenden Heroismus verpflichtet waren. Die Erinnerung, die hier erzeugt wird, entspringt natürlich eher dem Wunsch, den Geschehnissen nicht allzu tief in den schwarzen Schlund schauen zu müssen und ihnen mindestens noch den Sinn eines verlorenen Kampfes attestieren zu können, der um ein ideelles Ziel geführt worden sei.

Youngs an der postmodernen amerikanischen Literaturkritik geschulte Textexegese führte dann dazu, daß er zwischen dokumentarischem oder fiktionalem Zeugnis ebensowenig noch einen strukturellen Unterschied zu entdecken vermochte, wie zwischen dem Holocaust Museum in Los Angeles und dem in Washington – es gibt kein Leben außerhalb des Texts, und darin sind sich alle Texte gleich. Die Darstellung von Geschichte ist dazu verdammt, Geschichte von Darstellung zu bleiben.

Interessanterweise beruft sich Young, der angeblich schon als sehr junger Mann zum Judentum konvertierte, dabei auf jüdische Traditionen der Erinnerung, mit denen denn auch die Ausstellung beginnt. „Die Aufgabe der alten Schriftgelehrten und Rabbiner“, so Young, „hat niemals darin bestanden, die konkreten historischen Details der Katastrophe im Gedächtnis wachzuhalten; ihnen oblag es vielmehr, die Erinnerung an die traditionellen Paradigmen zu bewahren, nach denen die Ereignisse verstanden und interpretiert werden konnten. Ebenso verhält es sich mit heutigen Erzählern des Holocaust, die feststellen müssen, daß auch sie nur mehr die metahistorischen Mythen im Gedächtnis behalten können, durch deren Vermittlung sie Geschichte erfahren haben.“

Entsprechend beginnt der Rundgang durch die Ausstellung mit Yizkor-Büchern und -Kerzen, elektrischen und wächsernen, auf einer steht „Riverside“. Amerika ist für den Kalifornier Young natürlich ein zentrales Thema. Anhand der Architektur der beiden großen Holocaust-Museen in Los Angeles und Washington, aber auch anhand von Modellen und Konzepten für das, was im New Yorker Battery Park 1947 und was heute dort geplant ist, demonstriert Young, daß die jüdischen Einwanderer die ersten waren, deren präamerikanische Erinnerung „nationalisiert“ wurde. Was für den Battery Park nach dem Krieg, in der Phase des großen Schweigens und der Kriegsmüdigkeit noch unmöglich war, ist nun in Washington Wirklichkeit geworden. Mitten auf der Mall, mit Blick auf das Lincoln Memorial und unweit des Museums für Amerikanische Geschichte steht nun ein vom Architekten James Freed entworfener Bau, der zum Teil auch versucht, die Strukturen der Judenvernichtung mimetisch zu erfassen: von der hexagonischen, von Wachtürmen begrenzten Dachform bis in die schalldichte Akustik hinein sollen Besucher an Bau und Funktionsweise der Todeslager erinnert werden. Daß sie sich dabei bis zu einem gewissen Grad in die Häftlinge einfühlen müssen, wird noch von den „Personalausweisen“ ergänzt, die dem Besucher die Daten eines gleich alten, gleichgeschlechtlichen Opfers an die Hand geben. „Enter an American, exit a Jew“ war die bissige Formel, auf die ein Kritiker im jiddischen Forwärts die Sache brachte.

Zu riesigen Wandbehängen aufgeblasen hat Young interessanterweise Fotos der Gedenkstätten in ehemaligen Lagern, vor allem Auschwitz. Diese Fotos erzeugen, im Gegensatz zu denen von Siegurd Maschke, Henning Langenheim oder Heimrad Bäcker in der Ausstellungschoreographie eine Art Sakralraum; sie umschließen den Besucher mit einem ähnlich archaisierend-naiv-gigantomanen Impuls wie die ersten Pollock- Drippings. Die zum Teil nie erbauten Modelle für die Gedenkstätten in Auschwitz oder Mauthausen müssen dagegen abstechen wie Spielzeugstädte vor einem riesigen Felsen; der graue, überwucherte Stein wirkt längst wie ein Teil der Natur.

Vor solchen Arrangements wird der Besucher fast ebenso zum „Schauspieler“ wie in den großen amerikanischen Holocaust-Erlebnisparks, den Museen, die einen durch Viehtransportwagen, Gestapo-Zellen und Kofferberge bis hinein in Gaskammer-Imitate schicken. An einem zentralen Punkt der Ausstellung steht man vor einer Videoleinwand, auf der eine Dokumentation von Young zum Yom- HaShoah zu sehen ist, dem Gedenktag, wie er in Israel begangen wird. Sein Datum schließt an mehrere andere religiöse und säkulare Ereignisse an, und er wird begangen, indem ganz Israel um acht Uhr morgens für zwei Minuten stillsteht. Man hört nichts außer den Sirenen, die Leute fahren auch auf der Autobahn an die Seite, steigen aus ihren Autos und bleiben auf der Straße stehen; unpassenderweise fällt einem unwillkürlich der Moment ein, als Dornröschen sich in den Finger stach und um sie herum alles erstarrte. Die Leinwand ist so gehängt, daß man einen Schatten auf sie werfen muß; man steht also neben den Schweigenden plötzlich auf der Dizingoff-Straße in Jerusalem. Natürlich wird am Beispiel der zentralen nationalen Gedenkstätte Israels, an Yad Vashem, demonstriert, wie die Erinnerung mit der Staatsräson verknüpft wird: Israel muß stark sein, damit so etwas nie wieder geschieht.

Dankenswerterweise beschäftigt Young sich dann aber auch mit denjenigen, die aus Mißtrauen gegen die traditionelle Allegorisierung der Geschichte versuchen, ihre Arbeiten zum Verschwinden zu bringen. Ester und Jochen Gerz hatten 1986 im Auftrag der Bezirksversammlung von Hamburg- Harburg einen hohen, viereckigen Kubus errichtet, auf dem Passanten sich einschreiben sollten. Wenn der in Griffhöhe liegende Teil ausgefüllt war, senkte sich der 12 Meter hohe Bleistab in den Boden ab. Anstatt des antifaschistischen Schutzwalls, den die Künstler sich erhofft hatten, schrieben viele Mitbürger Obszönitäten, „Gabi ich liebe dich“ oder Naziparolen auf. Zunächst frustriert, redeten die Künstler sich die Sache nachher schön: „Der ,Spiegel‘“, sagte Gerz in einem Interview, „hat von sinnlosem Gekritzel und Gekratzel geschrieben. Aber das ist ein politisches Statement.“ Die Hoffnung sei gewesen, daß die Säule so etwas werden möge wie das „Fieberthermometer im Arsch der Nation“.

Kann man durch diese Formen aus dem Zwang zur Allegorisierung ausbrechen? Wohl kaum. „Von einem Denkmal, das verschwindet“, so die Professorin der Anglistik Aleida Assmann, „bleibt irgendwann einmal nur noch der Name des Künstlers. Da bildet sich so eine Art neuer Kulturheroismus.“

Man merkt der Ausstellung an, daß Youngs theoretisches Instrumentarium (alles ist „Text“) ihm nicht gestattet, unter den Exponaten Gewichtungen zu setzen. So weiß man nicht so recht, ob ihm die Aktion des deutschen Künstlers Horst Hoheisel, Besucher „Denk- Steine“ nach Deportationslisten beschriften und gewissermaßen eine „Patenschaft“ für ein Opfer übernehmen zu lassen, eigentlich recht ist. Oder ob es in seinem Sinne war, die Entwürfe für das zentrale Mahnmal in Berlin oder die Zukunft des Gestapo-Geländes auszustellen, wie es das Deutsche Historische Museum dankenswerterweise nun tat. Weil ihr ein inneres Zentrum, eine These, ein wirklich sortierender Zugriff auf ihr Material fehlt, ist James Youngs Ausstellung zwar „vollständig“, aber auch ein bißchen geschwätzig.

Als eines der letzten Bilder ist mir ein Foto von Henning Langenheim in Erinnerung, das einen Überlebenden zeigt, der hinter dicken Horngläsern vorsichtig in die Kamera schaut. Er trägt seine Uniform, als müßte auch er für die Besucher noch einmal nachspielen, damit man ihm glaubt. Das ganze Elend aller nichtmagischen Erinnerungsformen ist auf diesem Bild zu sehen.

„Mahnmale des Holocaust“, noch bis zum 15.11. im Deutschen Historischen Museum, Unter den Linden 2. Anschließend wandert die Ausstellung nach München.