Angst vor dem deutschen Untier

Joschka Fischers Rekonstruktion des „deutschen Sonderwegs“ erweist seinem Plädoyer für die Westbindung Deutschlands, für die Erweiterung der EU und für eine Politik des Multilateralismus den denkbar schlechtesten Dienst  ■ Von Christian Semler

„Mit einer fremden Sache hineingehen, um mit der eigenen hinauszukommen.“ Dieser Ratschlag des spanischen Reaktionärs Donoso Cortes empfiehlt sich für die deutschen Linken, wenn sie sich dem Komplex der Nation nähern. Die Nation, die deutsche zumal, lieben wir nicht besonders und wir haben auch einigen Grund dazu. Aber leider, leider ist es nun mal notwendig, sich mit dieser „fremden Sache“ zu beschäftigen, das Terrain den Konservativen nicht kampflos zu überlassen, zumal die Hoffnung, das Gespenst werde auf alle Zeiten gut verkorkt in der Flasche der Westintegration schlummern, getrogen hat.

Zwar hat unsere Regierung, frei nach Thomas Mann, nach der Vereinigung unermüdlich versichert, es gehe weiter um die Europäisierung Deutschlands und nicht um die Germanisierung Europas, aber die Einforderung „deutscher Interessen“, der Hinweis auf die „neue Rolle Deutschlands in Europa und der Welt“ nimmt allmählich unangenehme Formen an. War die westliche „Einbindung“ der alten Bundesrepublik nur ein Abweg und kehrt das vereinte Deutschland jetzt auf die nationalstaatliche Hauptstraße zurück?

Das ist die Sorge, die Joschka Fischer erneut an den Computer zwang. Er las mehrere Dutzend Standardwerke zur neuen deutschen Geschichte und teilt uns jetzt als Ergebnis seiner Studien mit: Deutschland muß um jeden Preis an der Westorientierung festhalten und die europäische Integration vorantreiben. Sonst kehren die niederen Dämonen zurück. Dieses Resultat ist so umwerfend nicht, spiegelt es doch die frisch gewonnen Einsichten der Linken über die wohltätigen Wirkungen der Verwestlichung. Seit Rostock und Mölln nehmen die ehemaligen Champions der „Raus aus der Nato“-Kampftage sogar die Brüsseler Kommandozentrale in Kauf, wenn es nur mit ihrer Hilfe gelingt, der „Re-Nationalisierung“ einen Riegel vorzuschieben. Neu an Fischers Studie ist der Versuch, die Konservativen auf ihrem eigenen Gelände zu schlagen: der Indienstnahme der Geschichte, um aktuelle politische Strategien zu untermauern. Ein mutiges Unterfangen angesichts der Konzentration linker Autoren auf die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Determinanten der neueren deutschen Geschichte. Von materialistischen Ambitionen dieser Art hat Fischer sich frei gemacht – allzu frei. Das Wörtchen „Imperialismus“, selbst in seiner harmlosesten Bedeutung als Zeitalter weltweiter Kolonialisierung, kommt in seiner Studie nicht vor. Das ist keineswegs zufällig, denn ein solcher Strukturbegriff, der auf die europäische Staatenwelt in toto anwendbar wäre, stünde Fischers Hauptabsicht im Wege: dem Aufweis der katastrophalen Ergebnisse des „deutschen Sonderwegs“. Schon mit den Schlesischen Kriegen Friedrich II. ist nach Fischer eine blutige Spur gelegt, die schließlich in die Vernichtungslager der Nazis einmünden wird. Der erst preußische, dann, nach 1871, preußisch-deutsche Entwicklungsweg zementiert den feudal-absolutistischen, militärisch dominierten Herrschaftsapparat im Innern, drängt Deutschland von den durch die Französische Revolution gesetzten, westeuropäischen Standards ab und verhindert zur gleichen Zeit, daß die deutschen Staaten im System des europäischen Gleichgewichts ihre Mitte finden. Deutschland betritt das 20. Jahrhundert mit hochentwickelter Technik und Ökonomie, aber gleichzeitig mit einer Führungselite, die völlig dem Machtdenken verfallen ist, zunehmend ihren Realitätssinn einbüßt, innenpolitisch auf gewaltsame Niederhaltung der Klassenkonflikte und außenpolitisch auf militärisches Vabanque programmiert ist. Das ist – nach Fischer – die Quintessenz der „deutschen Risikopolitik“.

Unbestreitbar wirkten in der deutschen Geschichte spezifische destruktive Kräfte. Schließlich kam in diesem Jahrhundert von hier die größte Bedrohung für die Weltzivilisation. Aber es ist schon verdrießlich, daß Fischer die vor allem von angloamerikanischen Historikern vorgebrachten Einwände gegen die Theorie vom deutschen Sonderweg (ideologischer Charakter der Konstruktion, Nichtexistenz eines „Hauptwegs“) einfach nicht zur Kenntnis nimmt. Das führt den Autor ins Reich der groben Vereinfachungen. Im alten, dem „Heiligen Römischen Reich“ sieht er nur Stagnation und Fäulnis, ignoriert das „Erbe“ an Rechtsstaatlichkeit, städtischer Freiheit und Föderalismus, von dem wir gerade heute profitieren. Bei der Charakterisierung der Schlüsselepoche, die auf die Reichseinigung von 1871 folgte, saust der Holzhammer nieder. Daß das Kaiserreich nach der großen Schlacht gegen das Dreiklassenwahlrecht von 1910 in den Grundfesten erschüttert war, daß von der Arbeiterbewegung, der erwachenden Frauenbewegung, von der künstlerischen Avantgarde demokratische Impulse ausgingen, die die deutsche Gesellschaft auf den Weg der Moderne brachten, scheint Fischer belanglos. Würde man seiner Argumentation folgen, so wäre die Republik von Weimar ein völlig voraussetzungsloses, von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Unternehmen gewesen.

Fischer argumentiert nur von den katastrophalen Schlußpunkten, von den Niederlagen her: August 1914, Januar 1933. Je eindeutiger die auch geschichtswirksamen links-demokratischen Kontinuitätslinien geleugnet werden, desto effektvoller kann das Szenario „Die deutsche Katastrophe“ aufgebaut werden. Bei der Ausmalung des Bühnenhintergrunds greift Fischer zum dicksten Pinsel. Die Illusionen der Machtelite sind „hochgefährlich“, das Machtvakuum nach Ende der Blockkonfrontation „hochbrisant“, die Politik der Wilhelministen „irrsinnig“. Daß das Hitlerregime verbrecherisch war, wird selbst dem verstocktesten Leser klar, wenn er die Charakterisierung zwanzig Mal gelesen hat (Der Historiker des Holocaust Hilberg sagte einmal: „Lassen Sie das ,verbrecherisch‘ weg, wir brauchen es nicht“).

Aus jedem Knopfloch der Argumentation Fischers starrt uns die Angst vor den Deutschen an. Seine Vorschläge zu einer „interessengeleiteten“ deutschen Politik sind ausschließlich von dem Wunsch nach Einhegung des deutschen Untiers diktiert. Natürlich hat Fischer recht, wenn er äußerste Vorsicht bei diplomatischen Alleingängen unserer Regierung in Krisenregionen empfiehlt und für Zurückhaltung bei der Entsendung deutscher Truppen plädiert, sei es in oder out of area. Aber es bleibt die Frage, ob Deutschland nicht gerade wegen seiner mörderischen Vergangenheit eine besondere Verantwortung für die Verteidigung der Menschenrechte weltweit (und daher auch in Jugoslawien) zu übernehmen hat. Fischers Arznei schmeckt hier nach der eingebildeten Krankheit, die er mit so viel Verve bekämpft: der Fortsetzung des „deutschen Sonderwegs“.

Joschka Fischer: „Risiko Deutschland. Krise und Zukunft der deutschen Politik“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 39,80 Mark