Carlsson will nicht allein aufs Dach

In Schweden wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt / Ein Machtwechsel zugunsten der Sozialdemokraten wird erwartet / Grüne und Linkspartei im Aufwind  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Traumresultat oder Alptraum? 51 Prozent signalisierten die Meinungsforscher der seit 1991 auf den Oppositionsbänken schmorenden Sozialdemokratischen Partei Schwedens noch Ende August. Ein wahrer Erdrutschsieg schien am 18. September bevorzustehen, angesichts von nicht einmal 38 Prozent für die Partei bei den letzten Parlamentswahlen. Doch der Jubel hielt sich in Grenzen. Absolute Mehrheit bedeutet Alleinregieren und alleinige Verantwortung für die Entwicklung der nächsten vier Jahre. Im einstigen sozialdemokratischen „Musterland“ Schweden ist das schon lange kein erstrebenswertes Ziel mehr. Zu groß ist die Last der schwersten Wirtschaftskrise seit sechzig Jahren, einer windelweichen Währung, rekordhoher Staatsverschuldung und einer Arbeitslosenrate von knapp 15 Prozent.

Leichtes Spiel für die Opposition

Der Wind der Wählersympathie, der die Sozialdemokratie auf ein seit den sechziger Jahren nicht mehr erreichtes Popularitätshoch getragen hat, verwundert da nicht. Die von Carl Bildt geführte bürgerliche Dreiparteienkoalition steuert seit Monaten ohne Rezept und innerlich tief zerstritten durch die Wirtschaftskrise und vermochte sich für die Wahlen nicht einmal auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu einigen. Der Ministerpräsident scheut trotz eines Rekorddefizits im Haushalt Steuererhöhungen, während seine Finanzministerin diese als allein selig machend propagiert. Das Wirtschaftsministerium verschleudert Milliarden an öffentlichem Vermögen, weil aus ideologischen Gründen soviel Staatsunternehmen wie möglich vor der erneuten Machtübernahme der Sozialdemokraten privatisiert werden sollen, und der Umweltminister wirft wenige Monate vor der Wahl das Handtuch, weil die Regierung ihn in allen wichtigen Fragen überfährt.

Selten dürfte einer Oppositionspartei ein Wahlsieg so in den Schoß gefallen sein wie bei diesen Wahlen den Sozialdemokraten. Obwohl – oder weil – Ingvar Carlsson und seine Sozialdemokratie sich auch nur das kleinste Wahlversprechen verkniffen haben und ihr Regierungsprogramm den Schweden höhere Steuern und ein kräftig sinkendes Realeinkommen, dafür aber einen Stopp des Abbaus des sozialen Netzes bringen soll. Wer sozialdemokratisch wählt, wird also weniger Geld in der Lohntüte vorfinden, darf dafür aber ziemlich sicher sein, daß der Ausverkauf im Gesundheitswesen und der Abbau des Schutzes für Arbeitslose nicht weitergehen.

In der Endphase des Wahlkampfes stellten die Demoskopen nun aber für Ingvar Carlssons Mannschaft einen höchst unerfreulichen Trend fest: Mehr und mehr Stimmen aus dem sozialdemokratischen Lager gingen nach links zur exkommunistischen Linkspartei und der grünen Umweltpartei, die bei den letzten Wahlen an der Vier-Prozent- Sperrklausel scheiterte, jetzt aber wieder erstarkt ist. Beide verstanden es, sich die sozialdemokratische Kritik zu eigen zu machen, gleichzeitig aber Rezepte zu präsentieren, die vielen Wählern einleuchtender scheinen. Statt Steuererhöhungen für alle nur eine Anhebung der oberen Einkommens- und der Vermögenssteuer, dafür aber ein Verzicht auf teure Verkehrsprojekte und ein kräftiges Abspecken des Verteidigungshaushaltes. Vor allem Frauen und Jungwähler wollen laut Analysen der Demoskopen in Scharen von den Sozialdemokraten zur Linkspartei und den Grünen hinüberwechseln.

Frauen und Jungwähler wollen weiter nach links

Diese verstanden es, die beiden offenen Flanken der Sozialdemokraten auszunutzen: das nicht vorhandene Umweltprofil der Betonpartei und die EU-Frage. Grüne und Linkspartei sind die einzigen Neinsager zu einem EU-Beitritt in der schwedischen Parteienlandschaft. Was nicht heißt, daß solche in der Gefolgschaft der übrigen Parteien fehlen. Die sozialdemokratische Wählerschaft ist sogar mehrheitlich gegen Brüssel eingestellt, im Gegensatz zur nahezu gesamten Führungsebene. Doch die wichtigste politische Frage, die in Schweden ansteht, der Beitritt zur Europäischen Union und die am 13. November stattfindende Volksabstimmung, tauchte im Wahlkampf der etablierten Parteien nicht auf.

Das könnte sich nun rächen. Denn so kurz wie von den Parteistrategen erhofft scheint auch das Gedächtnis schwedischer Wähler nicht zu sein. Eine EU-Mitgliedschaft bedeutet selbst laut regierungsamtlichen Berechnungen zusätzliche milliardenschwere Budgetbelastungen. Mit der Folge, daß alle im Umfeld der Wahl vorgelegten Rechenkunststücke zum Haushaltsdefizit, seien es sozialdemokratische oder konservative, von vornherein unvollständig sind. Das hat den Nein-Parteien einen nicht zu unterschätzenden Glaubwürdigkeitsvorsprung eingebracht. „Reichstagschaos“, „Schreckenskabinett“ lauteten deshalb auch die Schlagzeilen von konservativen und liberalen Medien angesichts einer sich abzeichnenden 60prozentigen rot-rot-grünen Mehrheit im Reichstag.

Am meisten erschreckt schienen die Sozialdemokraten selbst über die erfolgreich, aber offenbar ungewollt gerufenen Geister. Eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei, auf die man sich im übrigen selbst zur Zeit deren linientreu- kommunistischer Vergangenheit immer gern als Mehrheitslieferant gestützt hatte, komme ebensowenig in Frage wie eine Koalition mit den wirklichkeitsfremden Grünen. So die Botschaft von Ex- und vermutlich Wieder-Ministerpräsident Ingvar Carlsson in den letzten beiden Wahlkampfwochen. Sollte es zur absoluten Mehrheit nicht reichen, will man lieber mit der rechtsliberalen Volkspartei zusammen regieren, auch wenn man an deren Finanzministerin in den letzten drei Jahren kein gutes Haar gelassen hat und es schwer fällt, einen gemeinsamen politischen Faden zu finden außer der gemeinsamen Pro-EU-Politik und dem Fehlen umweltpolitischen Bewußtseins.

Die Volkspartei freute sich auf das Bettplätzchen, das ihr von den Sozialdemokraten so unerwartet angetragen wurde. Unter dem Motto „Lieber Carlsson statt Chaos“ will sie gerne die Pfründe des Regierens weitergenießen, anstatt mit der restlichen Bildt-Regierung in der Opposition zu landen. Allein die Wähler verstanden wenige Tage vor der Wahl offenbar gar nichts mehr: Sowohl Sozialdemokratie wie Volkspartei sackten ob solcher Taktikspiele kräftig ab, und die grünen und linken „Chaosparteien“ legten nochmals zu. Der 18. September verspricht spannender zu werden als erwartet.