„Noch heute höre ich die Schreie“

■ Zwölf ehemalige KZ-Häftlinge besuchen fast 50 Jahre nach ihrer Befreiung zum ersten Mal den Ort des Alptraums: Das KZ-Arbeitslager im Salzschacht Beendorf war in der DDR für Ausländer tabu

Beendorf (AP) – Eigentlich dachte Serge Noizat, die alten Wunden seien längst verheilt. „Doch als ich heute per Fahrstuhl in den Schacht einfuhr, wurden sie wieder aufgerissen“, sagte der 70jährige Franzose aus Bourges. „Überrascht und überrumpelt“ haben ihn die Emotionen. Seinen elf Begleitern ging es nicht anders: Fast 50 Jahre nach ihrer Befreiung haben am Donnerstag ein Dutzend der überlebenden KZ-Häftlinge aus Frankreich, den USA und Polen zum ersten Mal die ehemalige Außenstelle Beendorf des KZs Neuengamme besucht.

Der ehemalige Widerstandskämpfer Noziat produzierte in den Salzschächten nahe der kleinen Gemeinde in Sachsen-Anhalt in den Jahren 1944 und 1945 gemeinsam mit rund 3.000 Männern und Frauen unter unmenschlichen Bedingungen Rüstungsgüter für die Nationalsozialisten. Die Männer mußten vor allem unterirdische Maschinenhallen in den Salzschächten „Marie“ und „Bartensleben“ bauen. Die Frauen mußten in zwölf riesigen Produktionshallen Teile für V1- und V2-Raketen sowie Munition für die Luftwaffe fertigen.

„Die Stollen waren damals viel größer. Jetzt gibt es keine Schienen mehr, und alles wirkt viel leerer“, beschreibt Noziat seine Eindrücke. Wie alle Zwangsarbeiter mußte er zwölf Stunden am Tag und 72 Stunden in der Woche schuften. Jahrzehntelang war Ausländern ein Besuch von Beendorf unmöglich. Die DDR-Führung wollte das im Sperrgebiet an der Grenze zu Niedersachsen gelegene Gelände nicht öffentlich zugänglich machen.

Die Polin Krystyna Raziska kam nach dem Warschauer Aufstand in das Konzentrationslager – als 15jährige. Sie mußte Beruhigungsmittel einnehmen, bevor sie ihr einstiges Gefängnis, die unterirdischen Gänge und Hallen, betreten konnte. Um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen, wurden die Frauen damals in Aufzügen hinuntergelassen. „Die Aufzüge waren feucht und dunkel“, entsinnt sich Raziska heute. Auch die Medizin, die sie eingenommen hat, kann die furchtbare Erinnerung nicht verschleiern: „Ich habe die Schreie der mißhandelten Kameradinnen wieder gehört.“ Unaufhörlich seien ihr die Tränen geflossen.

Die 65jährige Gloria Hollander- Lyon aus San Francisco leidet noch heute unter den körperlichen Mißhandlungen. Bereits sieben Operationen an der Wirbelsäule hat sie hinter sich, berichtete die Amerikanerin. Sie habe oft von diesem Ort geträumt und sei froh, nun als freier Mensch noch einmal hier zu sein. „Und dabei war dies noch eines der erträglichen Lager“, berichtet sie. Die Jüdin weiß, wovon sie spricht: Sie hatte vor ihrer Ankunft bereits einen langen Leidensweg durch fünf andere Konzentrationslager hinter sich.

Mit einer Kranzniederlegung am Massengrab auf dem Gemeindefriedhof gedachten sie der Männer und Frauen, die den Alptraum nicht lebend überstanden haben. Am 8. April 1945 wurden die KZ- Häftlinge in die Außenlager Wöbbelin bei Ludwigslust und Sasel bei Hamburg evakuiert. 600 sollen allein bei dem Transport ums Leben gekommen sein, berichtete der Historiker Bjorn Kooger, der die Geschichte des Lagers erforscht.

Zahlreiche Spenden aus der Bevölkerung, von Unternehmen, der sachsen-anhaltinischen Landesregierung sowie der Friedrich-Ebert- Stiftung und des Freundeskreises KZ-Gedenkstätte Neuengamme haben den mehrtägigen Aufenthalt der ehemaligen Häftlinge in Beendorf möglich gemacht.

Was früher der Ort des Grauens war, ist heute als Gewerbegebiet ausgezeichnet. Von den ehemaligen Häftlingsbaracken sind nur noch die Grundmauern stehengeblieben. Nach Kriegsende wurden die in den Bergwerken vorhandenen Maschinen als Reparationsleistungen nach Rußland gebracht. Von 1956 bis 1984 wurden im Schacht „Marie“ Hähnchen gezüchtet und anschließend Industrieabfälle eingelagert. Im Schacht „Bartensleben“ wurde bis 1969 Steinsalz gefördert. Danach wurde hier das Endlager für radioaktiven Müll Morsleben eingerichtet, das heute dem Bundesamt für Strahlenschutz gehört.

Zu den wenigen Erinnerungen an das Konzentrationslager in Beendorf gehört ein kleines von der Gemeinde gestaltetes Museum, Lagerhallen, Munitionsbunker, Wache, Tore, die ehemalige Kommandantur auf dem Schachtgelände und ein Gedenkstein am Massengrab auf dem Friedhof.

Der Lagerleitung wurde 1947 in Hamburg der Prozeß gemacht. Der Kommandant erhielt 15 Jahre, der Wachtruppenführer fünf Jahre Haft. Der Blockführer wurde wegen mehrfachen Mordes zum Tode verurteilt.