Bangen und beten in St. Michael

Sechzig ArmenierInnen dürfen vorerst in Jenaer Stadtkirche bleiben  ■ Von Heide Platen

Kirchenasyl – das heißt in der evangelischen Stadtkirche St. Michael in Jena: fünf weiße Zelte unter den spätgotischen Kreuzbogen, Feldbetten hinter den Kirchenbänken, ein gelbbunter Ball rollt durch den Mittelgang, in der Sakristei ist Pressekonferenz. Das heißt auch Rund-um-die-Uhr-Präsenz der dreißig Frauen und Männer der „Bürgerinitiative Asyl e.V.“, die sich seit Eröffnung der ersten Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber 1992 um Flüchtlinge aus aller Welt kümmern. Sie betreuen seit fast zwei Wochen zwanzig Menschen, fünf armenische Familien mit ihren acht Kindern und zwei junge Männer, die hinter den schweren, verwitterten Holztüren des evangelischen Gotteshauses in der Innenstadt Zuflucht gefunden haben.

Laura spricht ein bißchen Deutsch. Sie zeigt die Fotos, die in den letzten Tagen schon von ihr und ihren FreundInnen gemacht worden sind. Sie kommt aus der armenischen Hauptstadt Jerewan. Ein junger Mann versucht über die Sprachbarrieren hinweg zu erklären, warum er nicht in den Krieg ziehen will. Denn in Armenien herrscht Krieg, sagt Verena von Bronewski. Sie ist im Nachkriegsberlin geboren, Tochter einer jüdischen Mutter und eines armenischen Sowjetsoldaten. Sie machte sich seit 1986 gegen den massiven Widerstand der Behörden auf, ihren unbekannten Vater in der fernen Republik in der UdSSR zu suchen, und fand ihn und seine neue Familie. Sie knüpfte Kontakte, gegenseitige Besuche wurden organisiert. Auch nach dem Erdbeben war sie im Land. Sie ist nicht grundsätzlich dagegen, daß sich die Menschen dort freiwillig zur Bewachung der Grenzen und zur Verteidigung ihres Landes melden. Aber, sagt sie, es ginge nicht, daß die Regierung, die offiziell weder den Krieg erklärt noch mobil gemacht habe, junge Leute von der Straße weg zwangsrekrutiere. Und die Bevölkerung fliehe vor dem Krieg, aus Angst und auch aus der Not, die durch ihn entstanden sei: „Es gibt nichts, kein Wasser, keinen Strom.“ Frauen und Kinder seien dem Hunger und Elend völlig preisgegeben, wenn auch noch ihre Männer verschleppt werden.

Nicht nur die Welt, so Bronewski, habe diesen Krieg und seine Opfer vergessen, sondern auch die Regierung verschweige die Wahrheit. Augenzeugen berichten, daß Regierungstruppen gegen Aserbaidschan kämpfen, die sich als Freiwilligenverbände tarnen. Deserteure müssen mit Gefängnis für sich und ihre Familien und mit der Deportation ins Kriegsgebiet nach Karabach rechnen.

Armenien, seit 1988 im Kampf um die Autonomie mit dem benachbarten Aserbaidschan, sei zum Spielball der Gebietsinteressen Rußlands, des Irans und der Türkei geworden. Diese weltpolitisch hochbrisante Anrainerlage erkläre, so Cornelia Kurischko von der Bürgerinitiative, das Desinteresse an der diplomatischen Einmischung auch der Bundesrepublik und auch die Nichtanerkennung der armenischen Flüchtlinge als Asylberechtigte.

Armenier leben auch in der Türkei, im Iran und in Syrien. Die russischen Zaren teilten das Land, das im Stalinismus, im Einvernehmen mit der Türkei, noch einmal zerstückelt wurde. Im Südwesten des heutigen Armenien entstand die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan. Aserbaidschaner hatten 1918 bis 1920 in Pogromen für Platz gesorgt. Stalin installierte 1921 persönlich die zweite Enklave Karabach mit ihren fruchtbaren Tälern und Bodenschätzen im kargen Armenien, die von Aserbaidschan bis in den Schulunterricht hinein dominiert und gleichzeitig wirtschaftlich benachteiligt wurde.

Bedroht werden die Armenier auch von der Türkei, die Gebietsansprüche stellt und deshalb die Westgrenze blockiert. Seit 1988, nach den ersten Morden von Aserbaidschanern an 400 Armeniern und der neuen Vertreibung der Menschen, sind die Erinnerungen an den türkischen Völkermord von 1915/16 an den armenischen, frühchristlichen Gemeinden wieder wach. Damals waren 1,5 Millionen Menschen umgebracht worden, in Zwangsarbeitslagern gestorben oder auf russisches Gebiet geflohen. Karabach erklärte sich 1992 unabhängig und muß sich seither ebenfalls Kriegsgrausamkeiten vorwerfen lassen. Die Familien in der Kirche hoffen jetzt auf Verhandlungen der Kriegsparteien, die seit einigen Wochen in Moskau geführt werden.

Die Bürgerinitiative sieht die Bundesrepublik in einer besonderen Verantwortung gegenüber den inzwischen rund 15.000 armenischen Flüchtingen. Deutschland habe im Ersten Weltkrieg aus militärischem Interesse die Türkei unterstützt. Die Stadtkirche St. Michael wird in der kontroversen Diskussion um das Kirchenasyl vom evangelischen Landesbischof und seinem katholischen Kollegen, vom Superintendent und Landeskirchenamt, von der katholischen Nachbargemeinde, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstützt. Auch die Resonanz in der Bevölkerung, so Pfarrer Peter Spengler, sei überraschend positiv. Die Unterschriftenliste füllt sich immer mehr, die JenaerInnen bringen Kleidung und Spielzeug. Die kleine Umfrage einer Lokalzeitung ergab ein positives Echo: „Ich fange wieder an, ein bißchen an die Menschen zu glauben.“

Die Biologin Cornelia Kurischko hatte sich der Armenier schon vor zwei Jahren besonders angenommen, weil sie russisch spricht und deshalb dolmetschen kann: „Mein Mann und ich haben Arbeit, ein Haus und leben sicher. Wir haben nach der Wende aber auch die politische Verantwortung für deren Preis.“ Schließlich hätten die Armenier vorher „wenigstens ein friedvolles Leben“ geführt. Außerdem hätte es 1989, und da fühlt sie sich in der Pflicht, in der DDR „auch zu Schlimmerem“ kommen können. Und: „Die Armenier waren eher christlich als das ganze Abendland.“ Die vielgepriesene „Hilfe vor Ort“ hält sie für vorerst vergeblich: „Wo Krieg ist, kann ich nicht sinnvoll helfen.“

Die größte Unterstützung fand Cornelia Kurischko bei den Kirchen. Auch die Evangelische Synode Thüringens appellierte für ein Bleiberecht an das thüringische Innenministerium, das Innenminister Franz Schuster (CDU), einmalig in der Bundesrepublik, auch für sechs Monate gewährte. Diese Frist war für 58 Menschen am 31. Juni dieses Jahres abgelaufen. Seither haben auch drei weiteren Gemeinden in Gera, Altenburg und Gößnitz Kirchenasyl gewährt. Der Geraer Superintendent schilderte das Schicksal der von ihm im Gemeindezentrum beherbergten Familie. Ein Kind ist krank, ein junger Mann hatte sich vor der Flucht schon dem zweiten Einberufungsbefehl entzogen. Cornelia Kurischko möchte, daß die Behörden den Kriegszustand in der Heimat der Flüchtlinge endlich nicht mehr ignorieren: „Der Staat Armenien kämpft in Karabach, nicht der Bäcker und der Schuster.“

Am Freitag kam nach Verhandlungen mit dem evangelischen Landesbischof Hofmann erst einmal Entwarnung aus dem Innenministerium. In einer in Erfurt gemeinsam veröffentlichten Erklärung heißt es, es solle für die „betroffenen Menschen in einem anderen Land“ eine Perspektive gesucht werden. Währenddessen dürfen die rund sechzig Flüchtlinge die Kirchen nicht verlassen. Diese Suche müsse aber „in absehbarer Zeit beendet werden“. Andernfalls, so Schuster, müßten die Behörden die Armenier abschieben. Es gebe rechtlich kein „Kirchenasyl“. Die BI setzt darauf, daß die Frist wenigstens bis zur Innenministerkonferenz der Länder im November andauert. Nur dort könne das Problem bundesweit gelöst werden. Peter Spengler: „Es könnte sein, daß die Leute merken, daß sich das Recht in einer Schleife gefangen hat.“ Mit dem Kirchenasyl seien ihm die Jenaer „zu Hilfe gekommen, indem wir es ausgesetzt haben“: „Das ermöglicht den Experten und Politikern etwas, was sie sonst nicht tun können – eine Denkpause.“ Spengler: „Wir nehmen in Kauf, daß wir uns strafbar machen.“

Verena von Bronewski findet trotz Sprachschwierigkeiten schnell Kontakt zu den Familien in der Kirche. Sie kennt Jerewan. Da wird das Tischtuch schnell zum Stadtplan, bekannte Straßen und Gebäude werden genannt und mit Kerze und Feuerzeug markiert. Auf den Tischen stehen Blumen und Schüsseln mit Süßigkeiten und Gebäck. Die BesucherInnen werden einfach dazugebeten. Die Menschen lieben, das ist unschwer zu erkennen, ihre Heimat. Wer dort schon einmal gewesen ist, gehört sofort zu ihnen. Und sie wollen alle zurück. Sie wollen nur nicht, daß ihre Männer, alle zwischen 18 und 45, in den Krieg ziehen müssen. Fast jede armenische Familie hat schon mindestens einen Toten zu beklagen. Und so gehen sie nicht vor die Kirchentür, die ein Schild wegen des Kirchenasyls als geschlossen ausweist. Sie reden, warten und bangen, spielen Backgammon und beten. Daß sie in der Kirche seit Tagen auf ihre geliebten Zigaretten verzichten, beeindruckt Verena von Bronewski: „Armenier, die nicht rauchen, die gibt es eigentlich gar nicht.“

Spendenkonto: „Bürgerinitiative Asyl e.V.“, Kto.-Nr.: 2631000, BLZ 82040000, Commerzbank Jena