■ In Haiti will die UNO die Demokratie wiederherstellen
: Völkerrechtliches Neuland

Zwei Premieren sind in jüngster Zeit von der Öffentlichkeit kaum bemerkt über die Bühne gegangen. Mitte Juli baten die USA die internationale Staatengemeinschaft zum erstenmal um Erlaubnis, in ihrer eigenen Hemisphäre militärisch intervenieren zu dürfen. Ob in Panama 1989, in Grenada 1983, in der Dominikanischen Republik 1965, um nur die jüngsten Beispiele zu nennen – immer hielt sich das Weiße Haus an die von US-Präsident James Monroe 1823 verkündete Doktrin: „Amerika den Amerikanern“. Was im eigenen Hinterhof geschah, hielt man in Washington für eine familiäre Angelegenheit, die den Rest der Welt nichts anging.

Nun aber fragte man erst im New Yorker Glaspalast nach. Und dort fand die andere Premiere statt. Mit der Resolution 940 ermächtigte der UN-Sicherheitsrat am 31. Juli „Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, eine multinationale Truppe zu bilden [...] und in diesem Rahmen alle notwendigen Mittel anzuwenden, die die Abreise der Militärführung aus Haiti, [...] die baldige Rückkehr des legitim gewählten Präsidenten [...] und die Herstellung und Aufrechterhaltung eines sicheren und stabilen Umfeldes zur Durchsetzung des Agreements von Governor's Island erleichtern“. Im Klartext: Zum erstenmal in ihrer Geschichte erlaubt die UNO eine Militärintervention gegen einen souveränen Staat zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse.

Nach Kapitel VII der UN- Charta kann das mächtigste Gremium der Vereinten Nationen gegen den Willen einer betroffenen Macht auch militärische Maßnahmen anordnen oder genehmigen, wenn „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ vorliegen. Das war nach dem Überfall des Irak auf Kuwait 1990 und der Annexion des Emirats eindeutig der Fall, und die UNO ermächtigte eine von den USA angeführte Allianz zur politisch zwar hierzulande heftig umstrittenen, von der UN-Charta aber eindeutig gedeckten militärischen Intervention. Als nach Ende des zweiten Golfkrieges im Frühjahr 1991 im Norden Iraks Hunderttausende von kurdischen Flüchtlingen, verfolgt vom irakischen Regime und dem Hungertod nahe, sich durch die verschneiten Berge Richtung Türkei durchzuschlagen versuchten, appellierte der Sicherheitsrat „an alle Mitgliedstaaten und alle humanitären Organisationen“, zur Soforthilfe beizutragen.

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten errichteten eine Flugverbotszone, um die bedrohten Kurden versorgen zu können. Die UNO hatte mit ihrer Resolution, die sie im übrigen nicht explizit mit dem Kapitel VII begründete, völkerrechtliches Neuland betreten und sich unter dem Eindruck des menschlichen Dramas in eine innerstaatliche Angelegenheit eingemischt. Bei Verletzung von Menschenrechten, ja selbst bei Genozid, sieht kein internationaler Vertrag ausdrücklich eine militärische Einmischung vor. Eine solche ist erst legitimiert, wenn auf internationaler Ebene Frieden und Sicherheit bedroht sind. Dies nun wurde im Fall der Massenflucht explizit unterstellt – um das primäre Anliegen, die humanitäre Intervention, zu legitimieren.

Ein weiteres Stück Neuland betrat die UNO in Somalia. Während in Jugoslawien Blauhelme unter UN-Kommando zur Sicherung der humanitären Hilfe erst nach der Zustimmung der Regierungen der betroffenen Republiken stationiert wurden, ermächtigte der Sicherheitsrat eine von den USA befehligte Truppe, in Somalia das Umfeld für die humanitäre Hilfe militärisch zu sichern. Eine Zustimmung des betroffenen Staates erfolgte nicht – mit der Begründung, der habe gar keine handlungsfähige Regierung mehr.

Und nun also Haiti. Da dürfen zwar nicht die USA, darf aber eine multinationale Truppe (deshalb werden die 20.000 GIs von 266 karibischen Soldaten begleitet) auf der Insel landen, um die Militärführung festzunehmen oder zu vertreiben und den demokratisch gewählten Präsidenten wieder in sein Amt einzusetzen. Dieses Ziel wird in der Resolution 940 explizit genannt. Nun ist die Demokratie aber kein völkerrechtlich geschütztes Rechtsgut oder, umgekehrt formuliert: eine Diktatur ist völkerrechtlich gesehen kein Anlaß zur militärischen Intervention. Deshalb wird die Invasion letztlich (wie auch im Fall Somalia) mit einer „Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Region“ begründet, was dann eben die Anwendung des Kapitels VII der UN- Charta erlaubt.

Wie soll nun aber eine 7.000 Soldaten starke Truppe, die gerade über ein halbes Dutzend hoffnungslos veralteter Panzer, ein paar Mörser und Raketenwerfer sowie vier verrostete Hubschrauber verfügt, eine Bedrohung des internationalen Friedens sein? Niemand kann der haitianischen Armee ernsthaft aggressive Absichten gegenüber dem einzigen Nachbarstaat, der weitaus besser gerüsteten Dominikanischen Republik, unterstellen – und schon gar nicht gegenüber einem andern Staat jenseits seiner Küsten: Haiti besitzt kein Kampfflugzeug und kein Kriegsschiff, nur ein Patrouillenboot. Oder stellen die Bootsflüchtlinge die Bedrohung dar, die eine Intervention rechtfertigt? Doch was ist denn mit den Mexikanern, die in weit größerer Zahl in die USA fliehen? Von einem Genozid wie in Ruanda oder einem Massensterben wie in Somalia kann in Haiti nicht die Rede sein. Zwar sind in den drei Jahren Militärdiktatur an die 3.000 Menschen aus politischen Gründen ermordet worden, drei pro Tag oder 0,05 Prozent der Bevölkerung, schlimm genug, aber, im weltweiten Maßstab gesehen, so unüblich leider nicht.

Von einem drohenden Massenhungertod wie im kurdischen Norden des Irak oder in Somalia kann im Fall Haiti nicht die Rede sein. Haiti ist seit Jahrzehnten das ärmste Land Amerikas. Und wenn es den Haitianern materiell heute noch dreckiger geht als vor drei Jahren, haben sie das vor allem den Sanktionen zu verdanken, die dieselbe UNO verhängt hat, die nun zur Intervention ermächtigt.

Zwar spricht der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 940 vom „einzigartigen Charakter der gegenwärtigen Situation Haiti [...], die eine außergewöhnliche (exceptional) Antwort erfordert“, doch die Gründe, die er anführt, um eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit auf der Karibikinsel festzustellen – Diktatur, Terror –, treffen weltweit wohl auf Dutzende Länder zu. Müßten dann Invasionen nicht auch im Sudan, in Syrien, Birma oder auch China stattfinden?

Jahrzehntelang haben die Weltmächte mit ihrem Vetorecht den Sicherheitsrat praktisch lahmgelegt, und es galt – ideell, nicht faktisch – das der alten Weltordnung verpflichtete Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Erst das Auftauen der Blöcke ermöglichte es der UNO, ihr Interventionsrecht so massiv wahrzunehmen. Die neue Weltordnung hat sich zwar als Chimäre erwiesen, trotzdem legt nun der Sicherheitsrat das Kapitel VII immer extensiver aus, und die normative Kraft seiner Resolutionen setzt neue Parameter. Diese wiederum erlauben Interventionen in viel mehr Staaten, als die begrenzten Mittel und Möglichkeiten der UNO letztlich zulassen. Darin liegt also gewiß die Gefahr, daß sachfremde Kriterien und pragmatische Gründe, politische und geostrategische Interessen bei der Entscheidung über eine Intervention eine noch größere Rolle spielen werden als bisher.

Doch die Rückkehr zu einer restriktiven Auslegung des Völkerrechts würde angesichts der rapiden Internationalisierung der Gefahrenherde (ethnische Säuberung“, Proliferation von Atomwaffen, ökologische Kriegführung, etc.) das Risiko erhöhen, daß sich Konflikte unkontrolliert ausweiten und im Extremfall dann eben doch über eine nationale Intervention auf eigene staatliche Faust mit Rücksicht allein auf die eigenen Interessen ohne internationales Plazet eingedämmt werden. Es wäre nicht ein Rückfall in die alte Weltordnung, die mit ihrem Gleichgewicht des Schreckens immerhin noch für eine gewisse Stabilität sorgte, sondern in die nationalstaatliche Kanonenbootpolitik der Zeit zuvor, wenn auch unter neuen, noch viel eindeutiger von den industrialisierten Staaten des „Nordens“ gesetzten Bedingungen.

Gegen die durchaus reale Gefahr, daß die militärisch und ökonomisch mächtigen Staaten der Welt die UNO für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren, hilft letztlich nur eine Reform der Vereinten Nationen selbst. Da brauchen dann nicht Deutschland oder Japan vorrangig einen Sitz im Sicherheitsrat, sondern Staaten oder Staatengemeinschaften aus dem „Süden“. Dieser wird ja auch in Zukunft das vorrangige Ziel von Interventionen sein – auch wenn die Situation, die nach internationalem Eingreifen schreit, sei es nun Massenflucht wie in der Karibik oder Hungerkatastrophe wie in Somalia, letztlich eben oft Folge des vom „Norden“ beherrschten Systems weltwirtschaftlicher Ungleichheit und Abhängigkeit ist. Daran wiederum – ein weiteres Dilemma – wird keine UN-Intervention je etwas ändern.

Sicher müßte bei einer UNO- Reform zudem auch das Vetorecht neu geregelt werden. Doch dem stehen mächtige Interessen entgegen. Und so wird eine Erneuerung der Entscheidungsstrukturen der Vereinten Nationen, die ja Ausdruck des Sieges über Nazideutschland sind, und auch eine Neuformulierung ihrer Charta ein langwieriger Prozeß sein. Bis dieser zu einem Abschluß kommt, bleibt nichts anderes, als an einer Interventionskasuistik zu arbeiten und sich weiterhin auf völkerrechtlich dünnem Glacis zu bewegen. Thomas Schmid