Die Welt auf dem Bildschirm

Zu Hause arbeiten, per Video konferieren: Datenautobahnen sollen Straßen ersetzen  ■ Von Lorenz Redicker

Berlin (taz) – Im Frankfurter Stadtteil Hausen hat die Informationsgesellschaft schon begonnen. 16 pflegebedürftige SeniorInnen unterhalten sich dort täglich per „Videofon“, einen etwas zu groß geratenen Fernseher mit aufgebauter Kamera, mit ihrer Betreuerin in der Zentrale des Sozial- und Rehabilitationszentrums. Vor drei Jahren wurde das Kabelnetz zur Datenautobahn ausgebaut, seitdem können sowohl PflegerInnen als auch die meist allein lebenden SeniorInnen per Knopfdruck die Videoverbindung aufbauen.

Technisch möglich sind Videokonferenzen schon länger, eingesetzt wurden sie indes kaum. Solange die Kosten so hoch bleiben, wie sie es derzeit noch sind, wird kein Wohlfahrtsverband die elektronische Pflege zum Regeldienst ausbauen.

Neben den Daten, die Wissenschaftler schon jetzt in großen Mengen austauschen, werden es in Zukunft vor allem bewegte, farbige Bilder sein, die sich auf den Datenautobahnen tummeln werden. Digital codiert in Millionen von Bits, sollen sie in Form von Filmen, Videospielen oder als Modenschau aus dem Otto-Katalog ins Haus kommen. In der Arbeitswelt können sie den täglichen Weg ins Büro oder die Dienstreise ersetzen. Wissensdurstige können sich am eigenen Schreibtisch weiterbilden, die Tele-LehrerInnen setzen sich und ihre Schaubilder zum Thema via Personal Computer ins Bild und beantworten Rückfragen sofort. Die Vision: Die Datenautobahn ersetzt die Straße.

Von der Telearbeit erhoffen sich die Experten seit langem den Durchbruch der Heimarbeit. Die Datenautobahn soll ihr den Weg bereiten. „Büroraum ist teuer“, weiß Ulrich Klotz von der IG Metall, „steht aber meist leer.“ Telearbeit biete sich als Lösung an. Die Angestellten treffen sich nur noch ein- bis zweimal die Woche zu Besprechungen im Büro, konferieren ansonsten via Telefon und Computerbildschirm mit Chef oder KollegInnen. Wichtige Informationen, Dokumente und Büroklatsch werden elektronisch übermittelt.

Schon vor drei Jahren einigten sich Geschäftsführung und Betriebsrat von IBM Deutschland auf Regelungen zur Telearbeit. Zur Zeit erledigen 350 Frauen und Männer, meist Programmierer und Entwickler, einen Teil ihrer Arbeit in der eigenen Wohnung. Die Heimarbeiter „sind produktiver, motivierter und flexibler“, zitiert Susanne Reischle-Scheder, Pressesprecherin des Computerriesen, aus einer Studie des Psychologischen Instituts der Universität Tübingen. Danach bewerteten alle Befragten ihren häuslichen Arbeitsplatz als positiv.

Das Potential für die Telearbeit ist groß. Jeder fünfte Job könnte vom heimischen Schreibtisch aus gemacht werden, schätzt das Forschungsministerium. Bei IBM allerdings nutzt gerade jeder 70. Beschäftigte diese Möglichkeit.

Zählbare Vorteile versprechen sich Manager von der Telekooperation, dem schnellen Datenaustausch zwischen einzelnen Unternehmenseinheiten. Bei Ford in Köln haben zahlreiche Videokonferenzen mit den Kollegen in England die Entwicklung des neuen Modells „Mondeo“ beschleunigt. Die Techniker konnten direkt anhand des abgebildeten Objekts die Probleme mit der neuen Kardanwelle oder dem Vergaser besprechen. Die Datenautobahn ersparte Reisekosten und Zeit.

Ingenieure der Porsche AG errechneten, daß die Auffahrt zum schnellen Datex-M-Netz die Entwicklung eines neuen Modells um 49 Tage verkürzt. Und ein Endpunkt ist nicht erreicht: Die GMD (Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung) arbeitet an der dreidimensionalen Darstellung der Computerbilder. So könnte ein in Japan entwickelter Motorblock auf eine real existierende Werkbank in Deutschland projiziert werden, wo das virtuelle Objekt bearbeitet wird.

Wie gerufen kommt den Bauherren der Datenautobahn auch der Teilumzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin. Gespräche auf allen Ebenen könnten stattfinden, ohne daß die Beamten in den Nachtzug nach Berlin steigen müssen. Ausgerechnet die öffentlichen Verwaltungen sollen in den Planspielen der Bangemann- Gruppe auf der Datenautobahn ganz vorne wegfahren. Um „eine kritische Nachfragemenge für Telematikdienste in Europa zu erreichen“, heißt es in den Empfehlungen der Gruppe für den Europäischen Rat, sollten öffentliche Aufträge über ein europaweites elektronisches Ausschreibungsnetz vergeben werden. Was nichts anderes heißt als: Die bislang so behäbigen Behörden sollen zum Motor der Informationsgesellschaft werden und die Datenautobahnen so stark befahren, daß die Maut für die Nutzung der Netze ausreichend sinkt. Dazu beitragen soll auch der Datenaustausch zwischen den Behörden.

Entscheidend für die Verkehrsdichte auf den Bit-Schnellstraßen werden jedoch die privaten Haushalte sein. „Die Datenautobahn endet im Wohnzimmer“, ist sich Karl Schlagenhauf sicher, der mit seinem Softwarehaus Multimediadienste entwickelt. Auch die Prognosen der Telekom stützen die These. Dieter Gallist, Telekom- Vorstand Privatkunden, erwartet, daß die Deutschen im Jahr 2004 insgesamt 13 Milliarden Stunden vor ihrem Digitalfernseher sitzen und Multimediadienste abrufen werden.

Pay-TV schneidet sich etwa zwei Drittel vom Kuchen ab, den Rest der Zeit laufen Teleshopping- Programme, Wunschfilme oder Videospiele. Das klassische Fernsehprogramm erreicht nur noch 27 Milliarden Stunden Gesamtnutzungsdauer im Vergleich zu 34 Milliarden 1993. Dialogdienste wie Videokonferenzen spielen bei solchen Dimensionen mit 250 Millionen Stunden jährlich kaum eine Rolle. Ist das Jahrtausend erst weiter fortgeschritten, sieht Gallist das größte Potential bei elektronischen Zeitungen oder Büchern, im Telelernen und Teleshopping.

Soweit die Prognose. Zweifel bleiben: Was macht das elektronische Einkaufen reizvoller als den Einkaufsbummel in der Innenstadt? Warum sich einen Wunschfilm elektronisch aussuchen, wo die Videothek den gleichen Service bietet und der Fernseher doch nur beim Bügeln läuft? Die Hoffnungen orientieren sich an Amerika: In den USA wurden 1993 zwei Milliarden Dollar über Teleshopping-Kanäle umgesetzt. Doch läßt sich das auf Europa übertragen?

Schließlich müssen all die neuen Dienste bezahlt werden. Das Wirtschaftsforschungsinstitut prognos erwartet, daß die Medienkaufkraft der privaten Haushalte bereits durch Pay-TV und Pay-per-view (bei dem einen zahlt man pauschal, bei dem anderen pro Film) abgeschöpft wird. Da auch das Werbeaufkommen seine Grenzen hat, sei, so prognos in seinem trendletter, die Finanzierung ein „entscheidender Engpaß“ für die multimediale Zukunft.

Auch technisch und rechtlich sind lange nicht alle Fragen endgültig geklärt. Datenschutzrichtlinien stehen ebenso noch aus wie technische Normen für das interaktive Fernsehen. Und der Multimedia-PC, den auch Tante Anna und Onkel Gerd bedienen können, ist noch nicht erfunden. Zwar flimmert bereits in drei von zehn deutschen Haushalten ein PC-Bildschirm, doch „so selbstverständlich wie das Telefon“ (Harald Uhl aus dem Forschungsministerium) werden die Rechner nicht eingesetzt.

Im Angesicht der digitalisierten Welt ist auch Technikern nicht ganz wohl. Karl Schlagenhauf: „Die Zahl der Artefakte steigt dramatisch an!“ Die Umwelt werde uns nur mehr medial vermittelt, der Fernseher treffe die Vorentscheidungen. „Wer über die Inhalte bestimmt, hat die Macht!“ befürchtet Schlagenhauf. Berlusconi läßt grüßen.