„Ein Knäuel aus Wahrheit und Lüge“

In Berlin müssen sich ab Dienstag sieben Antifaschisten wegen gemeinschaftlichen Mordes an dem Funktionär der rechtsextremen „Deutschen Liga“ Gerhard Kaindl verantworten  ■ Von Severin Weiland

Berlin (taz) – Vor der 7. Strafkammer des Landgerichts Berlin beginnt am Dienstag einer der größten Prozesse gegen Anhänger der antifaschistischen Szene. Den sieben Angeklagten wird gemeinschaftlicher Mord und gemeinschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung in sechs Fällen vorgeworfen. Sie sollen am Abend des 4. April 1992 in einem China- Restaurant im Stadtbezirk Neukölln den 47jährigen Schriftführer der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ (DL), Gerhard Kaindl, erstochen haben. Thorsten Thaler, damals ebenfalls DL-Mitglied, war nach dem Überfall mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht worden.

Mehrere linksautonome Gruppen wollen morgen eine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude in Moabit abhalten. Auch das neonazistische Spektrum mobilisiert seit längerem über Info-Telefone in Berlin und Hamburg und ruft dazu auf, sich die „Sympathisanten im Zuschauerraum einzuprägen“. Folglich kündigte die Justizverwaltung bereits letzte Woche scharfe Einlaßkontrollen an.

Im Fall Kaindl wäre es wohl nie zur Anklage gekommen, hätte nicht einer der mutmaßlichen Täter gegenüber der Polizei ausgesagt. Monatelang hatte eine zwanzigköpfige Sonderkommission des polizeilichen Staatsschutzes, die unmittelbar nach der Tat eingerichtet worden war, erfolglos agiert. Am 13. November 1993 stellte sich dann der damals 17jährige Erkan S. und brachte damit eine Verhaftungswelle gegen die mutmaßlichen Mitglieder der deutsch-türkischen Kadergruppe „Antifașist Gençlik“ (Antifaschistische Jugend) ins Rollen.

Autonome Gruppen rufen zur Solidarität auf

Wenige Tage nach seiner Aussage wurden Mehmet R. und Fatma B. festgenommen. Abidin E. stellte sich wenig später, nachdem er von einer Durchsuchungsaktion in seiner Wohnung gehört hatte. Anfang Dezember erfolgte die Verhaftung eines weiteren Tatverdächtigen, Bazdin Y.. Auch er offenbarte sich gegenüber den Beamten. Am 9. Juli 1994 wurde in Passau einer der polizeilich Gesuchten, der 25jährige Seyho K., bei der Einreise an der bayerischen Grenze in Passau festgenommen. Schließlich beendete vor kurzem der 27jährige Carlo Bl. das Leben im Untergrund und meldete sich bei den Behörden. Derzeit sucht die Sonderkommission noch vier weitere Tatverdächtige, drei Männer und eine Frau.

Seit Monaten bemühen sich linksautonome Gruppen um Solidarität mit den Inhaftierten. Für die weitgehend isolierte Szene war der Überfall ein Akt des Selbstschutzes, dessen Wurzeln auf die aufgeheizte Atmosphäre nach den Angriffen auf Ausländer in Hoyerswerda zurückgeht. Doch der von linksautonomen Gruppen erweckte Eindruck, die Justiz habe von Anbeginn auf einen Schauprozeß abgezielt, dient mehr der Pflege des schlichten Feindbildes als dem tatsächlichen Verlauf der Ermittlungen.

Bereits kurze Zeit nach dem Überfall war es zwischen der zuständigen Staatsanwältin und der Sonderkommission zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten gekommen. Hintergrund war die Weigerung der Staatsanwältin, zum damaligen Zeitpunkt Haftbefehle gegen einige Verdächtige zu beantragen. Dies geht indirekt aus einem Antwortschreiben der Justiz vom Februar 1993 hervor, mit dem ein vom DL-Mitglied Karl- Heinz Panteleit angestrengtes Verfahren auf Strafvereitelung im Amt eingestellt wurde: Die Beweismittel, so heißt es dort, hätten nicht ausgereicht, um gegen eine bestimmte Person einen „dringenden Tatverdacht zu begründen“.

Ungereimtheiten bei den Ermittlungen

Das Bild, das hingegen die Arbeit der Sonderkommission vermittelte, bietet bis heute reichlich Stoff für Spekulationen. So tauchte etwa in dem DL-Blatt Deutsche Rundschau im Oktober 1992 eine Notiz auf, in der es hieß, die Polizei habe acht Türken von der linksextremistischen Gruppe „Antifașist Gençlik“ als Täter ermittelt. Thorsten Thaler erklärte gar im November vergangenen Jahres gegenüber der taz, er habe im Sommer 1992 bei einer Vernehmung durch den polizeilichen Staatsschutz personenbezogene Daten eines der mutmaßlichen Täter einsehen können. Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) nahm daraufhin im Frühjahr dieses Jahres seine Beamten in Schutz: In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen) wies er den Vorwurf einer Datenübermittlung an DL- Mitglieder zurück.

Der Verlauf des morgen beginnenden Prozesses hängt wesentlich von der Glaubwürdigkeit der Aussagen ab, die Bazdin Y. und Erkan S. gegenüber dem Staatsschutz machten. Letzterer ist nach einem von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen medizinischen Gutachten ein psychisch labiler Mensch. Erkan S. wurde daher in einer Nervenklinik untergebracht. Der Sprecher der Rechtsanwälte, Christoph Kliesing ist nach Durchsicht der umfangreichen Akten der „festen Überzeugung, daß die Aussagen von Herrn Erkan S. vom Polizeilichen Staatsschutz beeinflußt und gezielt in eine bestimmte Richtung gelenkt worden sind. Und das mit einem psychisch hochgradig gestörten Menschen, der die Tragweite seiner Auslassungen nicht überblicken konnte.“ Die Staatsanwaltschaft, so der Rechtsanwalt, wolle deshalb für Erkan S. auch keine Strafe, sondern eine Unterbringung in einer Klinik beantragen. Bazdin Y., der bereits vor geraumer Zeit auf eigenen Wunsch hin nicht mehr in die Solidaritätsarbeit miteinbezogen wurde, soll laut Kliesing inzwischen von seinem früheren Geständnis „in wesentlichen Teilen“ abgerückt sein. Für den Anwalt kommt es nun darauf an, das „Knäuel aus Wahrheit und Lüge“ zu entwirren.