Mißbrauch - kein Tabuthema

■ Bundesweit einzigartiger Modellversuch: „Netz der HelferInnen muß dichter werden“

Als „krankhafte Ausgeburt eines Hexenwahns“ bezeichnete jüngst Professor Dr. Udo Undeutsch, prominenter Gerichtsgutachter und Dozent der Uni Köln, den Anstieg angezeigter Fälle sexuellen Mißbrauch in der Familie. Der sexuelle Mißbrauch sei nur selten real, sondern meist auf „den inquisitorischen Jagdeifer ideologisch besessener, feministischer Kreise“ zurückzuführen, sekundiert Undeutsch seine bekannte wie umstrittene Kollegin Katharina Rutschky.

Positionen, die die Arbeit der ErzieherInnen in Kindergärten, Schulen und Freitzeitheimen nicht gerade vereinfachen. Ihre Verunsicherung darüber, wie sie auf den Verdacht, eines der ihrer Obhut unterstellten Kinder könnte sexuell mißbraucht worden sein, reagieren sollen und dürfen, ist durch die polemisierend geführte Debatte um den „Mißbrauch des Mißbrauchs“ eher gewachsen. Um dem Vorwurf der Hysterie und vorschneller Verdächtigungen vorzubeugen, begannen vielfach ErzieherInnen, die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen – oftmals ohne Kenntnisse über Befragungsmethoden, Analysetechniken und Handlungsperspektiven.

„Da werden manchmal Rollen vermischt“, bedauert Michael C. Baurmann, Forscher des BKA im Bereich Opferschutz. ErzieherInnen, weiß er aus Erfahrung, übernehmen die Arbeit der Kriminalpolizei oder des Jugendamtes, „und geraten dabei in tiefe Loyalitätskonflikte.“ Besonders für das Kind, das in der Erzieherin womöglich die einzige Vertrauensperson sieht, könne das schwerwiegende Folgen haben.

Probleme, für die der in Bremen gestartete, bundesweit einmalige „Modellversuch zum wirksamen Kinderschutz“ Lösungmöglichkeiten verspricht: Das vom Bonner Familienministerium geförderte und vom Amt für Soziale Dienste realisierte Projekt sieht vor, die ErzieherInnen vom bisherigen Übermaß an Verantwortung zu befreien, und stattdessen die Qualifizierung und Vernetzung verschiedener Berufsgruppen zu institutionalisieren.

„Wir wollen keine SpezialistInnen ausbilden“, erörtert Dr. Sabine Hebenstreit-Müller, Leiterin des Amtes für Soziale Dienste Ost und zentrale Jugendamtsleiterin. Das Qualifizierungsprogramm soll vielmehr quer durch alle Instanzen gehen, und so beteiligen sich etwa 280 MitarbeiterInnen aus drei Berufsgruppen an den am Montag beginnenden Weiterbildungsmaßnahmen: PädagogInnen aus Kindertagesstätten, Horten und Freizeitheimen, SozialarbeiterInnen der zuständigen Sozialdienste, LeiterInnen und ErzieherInnen von Heimen und Notaufnahmen für Kinder und Jugendliche.

Eine zentrale Frage der Fortbildung ist die, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit einem Verdacht gewährleistet werden kann. Hier blockte ein Mitarbeiter des Jugendamtes die Vermutung einer Lehrerin ab, dort hatte die Erzieherin selbst die Schere im Kopf. Mancher Fall versandete zwischen den widersprüchlichen Anforderungen an die MitarbeiterInnen der Jugendschutzbehörden, die auf der einen Seite dem Schutz des Kindes, anderseits dem der Familien verpflichtet sind.

Ein zweiter Schwerpunkt der jeweils zweitägigen Fortbildung wird die Verdeutlichung von Kompetenzgrenzen sein: „Lehrerinnen, Erzieherinnen sollen keine diagnostischen Aufgaben übernehmen“, warnt Rita Hähner. Sie können, meint die Mitarbeiterin der Projekt- und Entwicklungsstelle „Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“, im Projekt lernen, besser wahrzunehmen und das Beobachtete zu protokollieren. Die Interpretation aber sei den MitarbeiterInnen der Sozialen Dienste, den PsychologInnen und letztlich den VormundschaftsrichterInnen vorbehalten. Diese wiederum sollen regelmäßiger als bisher auf die schriftlich fixierten Beobachtungen der ErzieherInnen zurückgreifen.

Ziel ist, eine Art „runden Tisch“ zu institutionalisieren, der im Falle eines Verdachtes vom Sozialen Dienst zu organisieren wäre. Hier soll ein gemeinsames Vorgehen aller beteiligten Einrichtungen geplant werden. Von der Kooperation erhoffen sich die Initiatorinnen des Modellprojektes, daß auch Defizite, wie die mangelnde therapeutische Betreuung sexuell mißbrauchter Kinder behoben werden könnten. Doch das scheint weit entfernt, weiter jedenfalls, als das immerhin für die Dauer eines Jahres gesicherte Angebot an die ProgrammteilnehmerInnen, Fach- und Fallberatung in Einzelfällen in Anspruch nehmen. Was danach aus dem Modell wird, steht noch nicht fest. Klar ist lediglich: „Sexuell mißbrauchte Kinder sind auf die Handlungssicherheit des HelferInnennetzes angewiesen.“ dah