„Mehr beim einzelnen ansetzen“

■ Die scheidende ÖTV-Chefin plädiert für mehr Differenzierung in der Tarifpolitik

Bremen (taz) – Als sie am Ende den Kollegen für die Zusammenarbeit dankte, brach Monika Wulf- Mathies die Stimme. Ihr Grundsatzreferat auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag der ÖTV in Bremen geriet zum Vermächtnis der scheidenden 52jährigen ÖTV- Chefin, die im Januar als EU- Kommissarin nach Brüssel gehen wird.

Monika Wulf-Mathies plädierte darin für mehr Differenzierung in der Tarifpolitik: „Wenn Tarifverträge nicht an Bedeutung verlieren sollen, weil sie für immer weniger Personen gelten, müssen wir künftig auch in der Tarifpolitik stärker beim einzelnen ansetzen“, erklärte sie. Außerdem sprach sie sich dafür aus, die Tarifpolitik stärker auf den Kampf gegen Arbeitslosigkeit auszurichten und auch über das Tabu des Lohnausgleiches bei Arbeitszeitverkürzung zu diskutieren. Die ÖTV dürfe auch nicht den Arbeitgebern das Feld überlassen, wenn es um die Gestaltung der Arbeit ginge, erklärte sie. Sie forderte Tarifverträge, in denen auch ökologisches Wirtschaften festgeschrieben werde.

Auf dem dreitägigen Sachkongreß spiegelte sowohl das Grundsatzreferat der Vorsitzenden als auch die Leitanträge des Hauptvorstandes die Spannungen innerhalb der Tarifpolitik. „Knackige Lohnerhöhungen durchzusetzen“ sei bei sechs Millionen Arbeitslosen ein Unding, erklärte einerseits Wulf-Mathies, forderte andererseits aber auch, 1995 „tarifpolitisch alles auszuschöpfen, was durchsetzbar ist“.

Der gesellschaftspolitische Leitantrag des Hauptvorstands hält fest, daß eine „vorwiegend auf quantitative Ziele ausgerichtete Tarifpolitik auf absehbare Zeit an ihre Grenzen“ stoßen werde, und unterstreicht gleichzeitig: „Die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich bleibt Ziel unserer Tarifpolitik.“ Beschäftigungssicherung ohne vollen Lohnausgleich dürfe nur „in besonderen Krisensituationen zur Verhinderung von Entlassungen vereinbart werden“.

Als Nachfolger von Wulf-Mathies ist unter anderem der ÖTV- Bezirksleiter in Hessen, Herbert Mai, im Gespräch. Mai gilt innerhalb der Gewerkschaft als „Modernisierer“, als Typ des „intellektuellen Gewerkschafters“. In seinem Bezirk setzte er unter anderem Tarifverträge durch, nach denen Erschwerniszulagen in Freizeit umgewandelt werden können. Barbara Dribbusch