Sanssouci
: Nachschlag

■ "Das weiße Blatt" - Ausstellung im Literaturhaus

Dichterblatt vor der Inspiration, o.J., Detail Abb.: taz-Archiv

Soviel Anfang war nie im Berliner Literaturhaus. Dort zeigt die Ausstellung „Das weiße Blatt oder Wie anfangen?“ 23 Versuche von Schriftstellern, die Phantasie zu organisieren. Die Anzahl der Anläufe zum Anfang ist kein Zufall. Friedrich Pfäfflin vom Marbacher Schiller Nationalmuseum, wo die Ausstellung von April bis Juni zu sehen war, nimmt das 23 Buchstaben umfassende Buchdruckeralphabet als Gerüst und reiht an ihm seine Fundstücke wie Perlen auf; mit wenigen Ausnahmen (Goethe, Hölderlin, Brentano und Kraus) sind es Originalmanuskripte, die in acht Kapiteln knapp und plastisch kommentiert werden. Wer so buchstabiert, beansprucht weder Vollständigkeit noch Systematik. Mit dem Rückzug auf das sprachliche Material bekundet er vielmehr Scheu vor dem unverfügbaren schöpferischen Augenblick. Denkbar ist dieser erst in der Neuzeit, die sich aus der Tradition befreit hat: Die Angst vor dem Anfang entspringt dem Zwang zur Originalität.

„Das weiße Blatt“ ist ein Alphabet der Mittel und Techniken, mit denen Schriftsteller auf diese Herausforderung reagiert haben. Plötzliche Einfälle markieren wohl ihren glücklichen Grenzfall: Dann muß der erstbeste, gar nicht weiße Fetzen herhalten. Eduard Mörike griff zu einem schmalen Blatt, nachdem er auf einem „fremden Kirchhof“ „eine Christblume“ getroffen hatte; die Gedichtzeilen kippen nach unten und werden abgekürzt. Allen weniger glücklichen Schriftstellern empfahl schon 1809 ein gewisser Friedrich F. Hempel, mit dem Abmalen des Alphabets zu beginnen, schon seien die ersten Seiten gefüllt. „Ja nicht mit dem Anfang anzufangen“, warnte auch Lichtenberg. Sondern mit „Ideenmagazinen“ (Friedrich Schiller), deren materielle Gestalt variiert: Exzerpte auf Blättchen, die Arno Schmidt in Zettelkästen einordnete; Karteikarten mit Stichworten, die Alfred Andersch nach Erledigung mit einem Häkchen versah: „Warum nicht geschrieben?“ – Häkchen.

Inmitten der Ausstellung – deren Fortsetzungen sich Schreibgeräten, Stimulantien des Schreibens und Schreiborten widmen werden – steht eine Säule mit dem Schild: „Drücken Sie bitte auf den Knopf.“ Wer die Aufforderung befolgt, durchleuchtet ein Blatt Papier und sieht ein Wasserzeichen: Das leere Blatt ist gar nicht leer, den absoluten Anfang gibt es nicht. Aber der relative macht nicht weniger befangen. Jörg Plath

Das weiße Blatt oder Wie anfangen? Vom Schreiben I. Bis 16.10., Di-So, 11-19 Uhr, Literaturhaus, Fasanenstr. 23, Charlottenburg