Auf dem Weg zur zweiten Stadtwerdung

Mit Geldern von Bund und Land Berlin erhält die Plattensiedlung Marzahn einen Schub zur Stadt / Doch statt geschäftigen Lebens fürchten die Bewohner des Bezirks Großhandelsketten  ■ Von Rolf Lautenschläger

„Erst seit einem Jahr kann ich sagen, daß ich in Marzahn lebe. So richtig“, sagt der „Erstbezieher“ Martin Fergus. „Durch Schlamm sind wir früher in die Häuser gewatet, die alle gleich aussahen. Und wer zuviel getrunken hatte, verlief sich schon mal ins falsche.“ Jetzt kann er „sein“ Haus an der Farbe und dem Eingang „unter Tausenden“ erkennen.

Es ist augenscheinlich: Marzahn befindet sich auf dem Weg zur zweiten Stadtwerdung. Vor die typischen Bilder des Ostberliner Plattengewitters aus „dumpfen Betonklötzen“, wie Roland Mischke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1991 noch anklagte, schiebt sich allmählich ein anderes Marzahn: mit Neubauten der Ringelnatzsiedlung, dem grünen Bürgerpark, Wohnhöfen mit Terrassen und Spielflächen, sanierten Gebäuden, Einkaufsstraßen und Plätzen. Daß die baulichen Renovierungen die Platte nicht beseitigen, versteht sich von selbst. Dennoch nagen die städtebaulichen Erneuerungsmaßnahmen unentwegt am harten Stadtgrundriß der 150.000-Bewohner- Großsiedlung und weichen ihn auf – natürlich zu langsam, wie Fergus findet.

Trotzdem. Die erste Bilanz der zweiten Stadtwerdung Marzahns, die am Montag Bürger des Bezirks, Politiker, darunter die Bundesbauministerin, und Planer beim „Marzahner Aktionstag“ mit Rundfahrten, Debatten und einer Ausstellung zur Geschichte und Perspektive der Plattenkolosse ziehen konnten, kann sich sehen lassen: Die Ergebnisse der „integrierten Stadtentwicklung“ – eines Forschungsprojekts des Bundes – knüpfen an den bestehenden architektonischen Strukturen sowie der grünen Topographie am Rand Marzahns an mit Strategien der baulichen Verdichtung und Öffnung der Siedlung zum nahen Landschaftsraum.

Das Marzahner Projekt, meint Monica Schümer-Strucksberg von der Senatsbauverwaltung, zeichne sich dadurch aus, mit Steuerungsverfahren Modellprojekte und Sofortbaumaßnahmen zur Entwicklung der Großsiedlung auszuloten. Dabei komme es darauf an, die „Besonderheiten der Platte“ herauszuarbeiten und zu überwinden. Ein städtebauliches Experiment wie der lange dreigeschossige Wohn- und Gewerberiegel von Jens Freiberg an der Wuhlestraße etwa schreibe den Städtebau fort, ohne den bestehenden Raum zu zerstören.

Die städtebaulichen Planungen haben die Aufgabe, daß Marzahn ein eigenständiger, konkurrenzfähiger Stadtteil in Berlin werden kann und nicht zum Ghetto verkommt. Der Senat sowie der Bezirk haben nicht wenig dafür getan. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren wurde und wird mit einem Kostenaufwand von insgesamt fünf Millionen Mark den toten Plattenkisten mit ergänzenden Neubauten, Gewerbe- und Freizeitflächen Leben eingehaucht. Seit 1991, erinnert Schümer- Strucksberg, habe das Land Berlin für Wohnumfeldmaßnahmen rund 100 Millionen Mark aufgebracht, um damit Gärten, Wohnhöfe mit Spiel- und Bolzplätzen, Baumalleen und Parkanlagen anzulegen. Eine Milliarde Mark soll bis 1996 zusätzlich in Baumaßnahmen und die Sanierung von Wohnungen fließen. Neben dem Ausbau der Marzahner Promenade mit Geschäften, zehn Kinos, Wohnungen und Büroflächen mit 25.000 Quadratmeter Nutzfläche, ergänzt der Planer Heinz Willumat, „wird an den Unterzentren“ in den peripheren Marzahner Quartieren gebaut, um lokale Milieus, Mitten und Identifikationsorte zu schaffen. „Das werden richtige Einkaufsstraßen“, sagt Willumat.

Genau darin sehen viele Marzahner das Problem. Nicht nur daß ihnen die Implantate aus geplanten Passagen und Malls, Brünnchen und Sitzgruppen nicht unbedingt gefallen. Sie stört zugleich, daß die Investoren dort „keine richtigen Geschäfte, sondern bloß große Handelsketten einrichten“, wie ein Bürger protestiert. Es fehlt die Vielfalt, das differenzierte Angebot, der öffentliche Raum zum Kommunizieren und Handeln. „Die Händler müssen sich reiben“, sagt er nach vierzigjähriger DDR- Erfahrung.

Sowenig die Marzahner Probleme mit dem nahen Naturraum des Wuhletals haben, der ihrer Siedlung Frischluft zufächelt und Freiraum bietet, so sehr mangelt es ihnen am Arbeitsort, an der Stadt in Marzahn. Planungen und Anregungen dafür hat es genug gegeben, kritisiert die „Plattform Marzahn“-Mitarbeiterin Weber. Doch der Boulevard, der öffentliche Stadtraum für das kulturelle Leben und den Aufenthalt fehlen weiter. Weber sagt: „Wir brauchen den Schub zur Stadt, sonst schaffen wir's nicht.“