■ Monsunregen machen New Delhis Straßen zur Weide
: Invasion der heiligen Kühe

New Delhi (taz) – Zuerst ist es wie beim Almauftrieb. Doch dann wird es rasch zum Alptraum. Als wären sie nicht schon genügend gestreßt vom chaotischen Verkehr der indischen Hauptstadt, müssen Delhis Autofahrer nun mit einem neuen Mitspieler bei der täglichen Spießrutenfahrt vom Heim ins Büro rechnen: der Kuh. Wobei es ein ungleiches Spiel ist, bei dem es nur einen Gewinner gibt: Indiens ausgemergeltes heiliges Tier.

Das Straßenverkehrsgesetz prallt an dessen souveräner Unbekümmertheit glatt ab. Eine Herde läuft mitten im Verkehrsgewühl von einer abgegrasten Verkehrsinsel zu einer frischen, als wäre sie auf einer einsamen Schweizer Alm; ein alter Stier sitzt gelangweilt mitten auf der Kreuzung, die Vorderbeine weit in die Straße gestreckt, als wüßte er, daß kein Auto es wagen wird, seine Hufe zu berühren. Weder rote Ampeln noch Verkehrspolizisten, weder Hupen noch das Windrauschen eines hautnah vorbeirasenden Lastwagens können die Tiere in ihrer Ruhe stören. Höchstens Rivalenkämpfe bringen sie ins Traben, und dann kann es vorkommen, daß ein Bulle aus einer Seitenstraße direkt ins Verkehrsgewühl läuft, als wäre er bei der Fiesta in Pamplona.

Die Invasion der Kühe in Delhi ist das Resultat der reichlichen Monsunregen, die die Grünanlagen der Hauptstadt in saftige Wiesen verwandelt haben. Sie zeigt aber auch, daß weder Verstädterung noch Industrialisierung die essentiell bäuerliche Kultur des Landes verändert hat. Denn die rund zehntausend Kühe, die die Begrünungsversuche der Stadtgärtner zunichte machen oder sich um die faulenden Abfälle der Gemüsemärkte kümmern, sind natürlich nicht herrenlos. Sie haben alle ihre Besitzer, die in einem der zahlreichen Slums oder selbst in Appartementhäusern leben. Es ist beinahe wie bei der „Sömmerung“ auf den Schweizer Almwiesen: Die Kuh wird ins Verkehrsgewühl entlassen, um sich nach den ausgedörrten Sommermonaten wieder prall zu fressen. Meist kehrt sie von selbst wieder zurück – und wenn nicht, dann kann man sie in einem der sechs Pferche suchen gehen, in denen die Stadtverwaltung streunende Kühe an sich einsperren müßte. Doch die Wahrscheinlichkeit, sie dort zu finden, ist klein, denn die städtischen Pferche sind übervoll und die achtzig cattle catchers hoffnungslos überfordert.

Die städtischen Cowboys müssen nämlich sorgfälig darauf achten, daß keiner der vierbeinigen Verkehrssünder wegen unsanfter Behandlung stirbt. Delhi wird seit einem Jahr von der BJP-Partei regiert, die den traditionellen hinduistischen Werten wieder Respekt verschaffen will. Dazu gehört, daß die Kuh auf der Straße sicherer ist als ein Fußgänger auf dem Zebrastreifen. Eine der ersten Gesetzesvorlagen war die Einführung eines Schlachtverbots für Kühe: denn das würde an Kannibalismus grenzen.

Dann ist da immer noch die rabiate Tierschützerin Menaka Gandhi – ehemalige Schwiegertochter Indira Gandhis –, die jedem Tierschlächter mit dem Gericht droht. Als Betreuerin von drei Altersheimen für Kühe hat sie die Hand am Puls der Vierbeiner, denn ihre Autos fahren regelmäßig die Straßen der Hauptstadt ab, auf der Suche nach pflegebedürftigen Senioren. Die zahlreichen Bettler lassen sie dabei links liegen. Auch die Polizei hat sich darangemacht, die Bettler von den Kreuzungen zu vertreiben, während die Kühe weiterhin im Verkehrsgewühl wiederkäuen dürfen. Man ist schließlich die Hauptstadt eines modernen Landes, und Bettler vertragen sich schlecht mit Coca-Cola und McDonald's. Für Kühe gilt das nicht: „Beefburger“ bestehen in Indien aus Lammfleisch. Bernard Imhasly