■ Tun & lassen
: Lockergesellschaft

Zunehmend sollen ja die Menschen herzlos und feige weggucken, wenn ihr Nebenmann, gar ihre Nebenfrau, der biblische Nächste oder einfach der Nebenmensch, der auch ein Kind sein mag, irgendwie angemacht wird. Oder auch einfach leidet an Hunger, Durst, Geldmangel oder, coram publico, an Wahnsinn. Ach, wenn es doch bloß um Moral und Unmoral, Feigheit und Normalkurruption ginge! Das Problem ist ja viel ernster. Die Leute haben zum Beispiel wirklich zunehmend keine Vorhänge an den Fenstern, höchstens mal als Sichtblendenversuch eine kleine Häkelborte, wenn sie Parterre wohnen. Stores für den Tag, Übergardinen zusätzlich für die Zeit, in der das Licht angeknipst wird – wer hat denn noch so etwas? Springrollo fürs Schlafzimmer, eine nach Bedarf verstellte Lamellenjalousie im Bad ist doch alles, was heutzutage angebracht wird, weniger um die Privatsphäre zu schützen als um pro forma eine eigene Schamgrenze anzudeuten.

Bot der Freibadsommer in diesem Jahr nicht auch wieder zahllose Anlässe, sich die Alternative hinschauen oder weggucken zu stellen? Der Tag ist nicht mehr fern, wo die Umkleidekabinen völlig zu Putz-, Schmink- und Kicherkabinen für Heranwachsende umfunktioniert werden und allenfalls noch Senioren und Triebtätern zur stillen Einkehr dienen? Ausziehen, umziehen, ganz wenig anziehen, das ist doch ein fester Bestandteil dessen, was ich, in bewußter Konkurrenz zu anderen Konzeptionen, Risiko-, Erlebnis- oder Sensationsgesellschaft, um nur ein paar zu nennen – die Lockergesellschaft nennen möchte.

Keine Gesellschaft, auch nicht die Lockergesellschaft, ist ohne Probleme. Wenn eines feststeht in einer sich dramatisch wandelnden Welt, dann dies: Probleme gibt's immer. Das hier aufs Tapet gebrachte wird traditionell seit den notorischen 68ern mit der Parole bedacht: Das Private ist politisch. Richtiger ist: Das Private wird öffentlich. Was soll's! Wie oft habe ich schon erlebt, wie im Nachtcafé eine Beziehungskiste so lauthals verhandelt wurde, daß ich mich zum Parteiergreifen direkt aufgefordert fühlte. Oder zumindest zum Mitdiskutieren. Oder soll und muß ich der Mutter beistehen, deren Kinderfrust ich ohne Gardinen und ungefiltert mitkriege? Unklar ist mir auch, ob ich einem anderen Nachbarn zuwinken soll, wenn er wie ich nächtlicherzeit zum Kühlschrank tapert?

Neulich wurde es brenzlig. Ein Dutzend erregt sich austauschender Passanten stand um einen sichtlich hochnervösen, an einem Fahrradständer angeleinten Hund. Ausgesetzt? Das war die Frage, denn er sollte schon stundenlang dasitzen, wie ich hörte. Erst Sekunden vor der Beschlußfassung tauchte dann die Hundefrau auf. Es hatte eben länger gedauert auf dem Amt.

Hinschauen, weggucken, handeln – ein echtes Problem. Betsy Trotwood