■ Skandal Kinderarbeit? Gedanken zum Weltkindertag
: Die Kids wollen ins Leben!

„20 Prozent aller älteren Kinder leisten neben dem Schulbesuch verbotene Kinderarbeit“, so alarmierte zum gestrigen Weltkindertag der Kinderschutzbund. Die Rede ist von Deutschland. Schon den Sommer über machten Berichte über jobbende Kids von sich reden. Da wurde selbst die FAZ sozialkritisch und mitfühlend: „Viele Schüler sind im Ferienstreß.“ Die taz hingegen kulturkritisch und naserümpfend: „Kids jobben für Luxus.“ Geklagt wird auch, daß für viele StudentInnen Erwerbsarbeit bereits die Hauptsache geworden ist.

40 Prozent der Kinder und Jugendlichen arbeiten, und zwar nicht nur in den Ferien, sondern auch und gerade während der Schulzeit. Das fand eine Studie im Auftrag des Landes Nordrhein- Westfalen heraus. Der Zahl der StudentInnen in den Großstädten, die nicht nur in den Ferien, sondern auch im Semester jobbt, hat sogar die 60-Prozent-Marke überschritten. Arme Kids? Notleidende Studis? Gegen den Strich der Gemeinplätze gebürstet, wird ein anderes Muster sichtbar: Kinder, Jugendliche und Studenten suchen Jobs nicht nur zum Geldverdienen. Sie suchen im Job auch die Reibung mit einer Welt, die widerständiger ist als die sorgende Familie, realer als die pasteurisierte Schule und interessanter als die unsägliche Universität.

In Hamburg inszenierten Museumspädagogen ein mehrtägiges Spektakel mit Kindern. Zwölfjährige bauten Holzhäuser und eine Erdsauna. Sie gerbten Felle und mahlten Korn. Sie kochten und buken. Sie fuhren Floß, dengelten eigene Münzen und fütterten sogar ihr Schwein. Sie spielten „Die Stadt vor 800 Jahren“. Abends waren alle erschöpft, aber jeden Morgen standen mehr Kinder vor dem mittelalterlichen Lager. Auf die Frage, was ihm am Mittelalter so gut gefalle, antwortet ein Zehnjähriger: „Daß Kinder damals arbeiten durften, ja, daß Kinder eben was machen konnten, richtige, wichtige Sachen“, sagt der Junge und gießt weiter kaltes Wasser auf die heißen Steine seiner Erdsauna.

Kinderarbeit ist bei uns nicht mehr Ausbeutung wie in Manchester und Chemnitz vor 150 Jahren oder Sklaverei wie heute noch in indischen Teppichmanufakturen. Gewiß, auch für Kinderknechtschaft lassen sich hierzulande zu viele Beispiele finden. Die notwendige Wachsamkeit darf doch aber nicht den Blick dafür verstellen, daß jobbende Kids und Studis heute nicht mehr nur Opfer materieller Not oder ihrer Luxuswünsche sind. Sie wollen im Job auch der Infantilisierung fürsorgender Schulen und ängstlicher Eltern entkommen. Denn statt Resonanz wird ihnen zu Hause oft nur ein fades Echo geboten. Statt ihnen Auseinandersetzung, dieses fundamentale Lebensmittel, zuzumuten, hat man ihnen die Wünsche von den Augen abgelesen, bevor sie nur die Chance hatten, sie zu äußern. In der Schule werden Antworten gegeben, bevor Fragen gestellt werden können. Dann sitzen in den Uni-Seminaren lauter kleine Angestellte, Meister des Diensts nach Vorschrift. In der Berufsausbildung sieht es nicht anders aus. Wer das herrschende Bildungsideal erreicht und studieren darf – das schafft ein Drittel –, beginnt sein tätiges Leben frühestens nach 20 Jahren Schule: wenigstens 13 Jahre Penne und dann durchschnittlich 13,7 Semester eines Studiums, das zumeist noch verschulter ist als Kurse in der Oberstufe.

Je mehr die Bildungszeit gedehnt wird, um so enger wird es in all den Waben der Schuljahre, Semester, Fächer und Unterrichtsstunden werden. Der paradoxen Lernarchitektur gelingt es, Zeit und Raum zu verknappen, wenn ihre Anlagen erweitert werden. Komplexe Knoten werden in der Firma Sisyphos zu endlosen linearen Fäden aufgedröselt. So werden Arbeitsbienen gezüchtet. Am Ende sind sie apathisch und reagieren nur auf Druck. Darum auch flüchten die Studis und Kids aus den Lernvollzugsanstalten in den Job.

Student Frank S. studiert Volkswirtschaft. Aber seine Nebentätigkeiten sind ihm die Hauptsache. Morgens arbeitet er im Büro eines Wirtschaftsprüfers. Da verdient er seine Miete. Da ist gefragt, was er kann. Vor dem Studium hatte er eine Lehre absolviert. Anschließend unterrichtet er Erstsemester in Statistik. Die Fachschaft organisiert Repetitorien, in denen Klausurwissen getrimmt wird. Die Teilnehmer bezahlen bar. Vom Lernen „für die Uni“ sprechen sie wie von Sklavenarbeit. Dann geht Frank S. in die Vorlesung, „muß sein“, und anschließend ins Seminar, „ziemlich abgehoben“. Seine dritte Nebentätigkeit ist ihm die wichtigste. In der internationalen Studentenorganisation AIESSEC bereitet er einen von Studenten organisierten Kongreß über „Ökonomie und Ökologie“ vor.

Diese politisch atheistische Studentengeneration erfindet sich ausgerechnet im Job ihre Kontrapunktmusik zu den abgedroschenen Melodien der Unis mit ihrer leerlaufenden Lehre. Bereits die Kids üben sich in dieser kleinen Kunst des bricoleurs als Bastler ihres eigenen Lebenspatchworks.

Muß man noch extra erwähnen, daß es beim Job auch und vor allem darum geht, Geld zu verdienen, manchmal für das Nötigste und oft für das Unnötige? Muß man in großer antikapitalistischer Pose die Entfremdung der Arbeit kritisieren? Die Schüler- und StudentInnen jedenfalls sind in ihrer Mischung aus Pragmatismus und Lebenskunst viel intelligenter und viel erfolgreicher, als es eine zentralistische Bildungspolitik je sein könnte.

Der Generationenvertrag, dieser ungeschriebene Pakt, muß neu gestaltet werden. Dessen Erneuerung wird schon deshalb unausweichlich, weil sich unsere Gesellschaft die weitere Vernachlässigung der Bildung nicht leisten kann. Aber selbst einer mächtig grüngestreiften Koalition wird es nicht möglich sein, ideale Betreuungsverhältnisse in Schulen und Hochschulen zu finanzieren. Warum also die ja vorhandene Lust der Kinder, der Jugendlichen und der Studenten, selbst tätig zu werden und etwas Folgenreiches zu leisten, nicht einbeziehen?

In der Uni Witten-Herdecke arbeiten Studierende der Wirtschaftswissenschaften während ihres Studiums zugleich in Firmen. Sie verdienen dort auch Geld. Aber am wichtigsten ist den meisten Studierenden, daß sie dort Mentoren finden, Menschen, die was können. Warum sollten sich nicht auch Schülerinnen und Schüler außerhalb der Schule Mentoren suchen? Einen Meister im Handwerk? Einen Sachbearbeiter im Büro? Jemanden, bei dem sie neben ihrem Hauptberuf als Schüler einsteigen? Über längere Zeit müßten sie sich miteinander so verbünden, daß sie sich gegenseitig nützen. Eine Vision: Mentoren als Scouts, die Wege ins Leben weisen. Die Kids hinterlassen dafür jene Anfängergärung, die Innovationsforscher in unserer Gesellschaft als den größten Mangel ausmachen.

Die Bielefelder Laborschule übrigens überlegt bereits, wie sie eine Lieblingsidee ihres Gründers Hartmut von Hentig umsetzen kann. Hentig meint, während der Pubertät sollte man Schule ganz aussetzen. Da müssen und wollen die Kids raus ins Leben. Reinhard Kahl

Publizist, lebt in Hamburg