Wende hinter Gittern

■ Als die Ostberliner Knäste dichtmachten, kamen die "Kriminellen" nach Plötzensee / Erika Berthold und Claudia von Zglinicki haben vier Gefangene über zwei Jahre begleitet

taz: Waren die Frauen froh, aus dem Ostknast rauszukommen und in den Westknast überzuwechseln?

Erika Berthold: Nein, ganz im Gegenteil. Einige haben sogar überlegt, sich im Ostknast zu verbarrikadieren. Sie hatten Angst vor dem Ungewissen, vor allem vor Drogen und Aids. Darüber wußten sie nur sehr wenig, nur die Sachen, die sie aus dem „Schwarzen Kanal“ kannten. Sie dachten, sie kommen nach Plötzensee, und dort steht schon jemand mit der Spritze um die nächste Ecke. Eine Frau hat sich noch im Ostknast das Rauchen abgewöhnt, weil sie Angst hatte, im Westen würden sie ihr Hasch in den Tabak mischen, um sie süchtig zu machen.

Wie waren die ersten Eindrücke im Westen?

Berthold: Der Knastalltag hat sie anfangs sehr verunsichert. Kein militärischer Drill mehr, statt mittelalterlicher grauer Mauern Rasen und Blumenbeete, Tennisplätze und ein Mutter-und-Kind- Haus.

Sozusagen ein goldener Käfig.

Berthold: Was natürlich im Vergleich positiv war. Aber es gab auch Nachteile. Die Frauen haben im Osten für ihre Arbeit sehr viel mehr Geld gekriegt als in Plötzensee. Da konnten sie dann ihre Schulden, Prozeßkosten und Schadenersatzzahlungen abbezahlen.

Claudia von Zglinicki: Da haben sie natürlich auch geschuftet wie die Tiere, haben in Schicht gearbeitet und auf Leistung. Wer die 100 Prozent nicht schaffte, bekam Lohnabzug.

Berthold: Aber zumindest waren die meisten Frauen mit langen Haftstrafen schuldenfrei, wenn sie aus dem Knast rauskamen.

Wie war die Betreuung im Ost- Knast?

Berthold: Die erschöpfte sich eigentlich in der Kontrolle des reibungslosen Funktionierens dieser Frauen im Knast. Das hatte nichts mit Aufarbeitung oder gar Therapie zu tun. Wer sich unter diesen Bedingungen anpaßte, sich wegduckte, galt als gut erzogen.

von Zglinicki: Eigentlich war das für die Frauen die verschärfte Version des Lebens, das sie draußen geführt hatten. Sie waren überwiegend sowieso sehr angepaßt, haben ihr Leben lang alles in sich reingefressen, bis sie dann eines Tages explodiert sind.

Ist das im Westen anders?

Berthold: Knast ist Knast, aber in Plötzensee haben die Gefangenen doch gewisse Rechte und Möglichkeiten, sich für ihre Interessen einzusetzen.

von Zglinicki: Zum Beispiel haben die Frauen es erreicht, auf eine gemeinsame Station zu kommen. Eine hat nachts ihr gesamtes Geschirr und Mobiliar gegen die Zellentür geknallt, nachdem ihre Eingaben nichts genutzt hatten. Danach ist sie dann zu den anderen verlegt worden. Das war für sie eine einschneidende Erfahrung: zu sehen, es macht Sinn, sich zu wehren.

Sprechen die Frauen eigentlich untereinander über ihre Taten?

von Zglinicki: Nein. Bei den Frauen, die lange einsitzen, sind etliche mit Kindesdelikten, gerade darüber wird nicht geredet. Die Frauen, die wir kennen, haben über Jahre hinweg äußerste Anstrengungen übernommen, um Lügengebäude zu errichten. Das ist im Westen genauso.

Das heißt, eine Aufarbeitung der Vergangenheit findet nicht statt?

von Zglinicki: Auf den normalen Stationen nicht. In Plötzensee gibt es aber die sozialtherapeutische Station. Die liegt vor den eigentlichen Gefängnismauern, hat keine Gitter vor den Fenstern und bietet zahlreiche Vollzugslockerungen. Es gibt regelmäßig Gruppengespräche, in denen die Frauen lernen, Konflikte auszuhalten und sich gegenseitig die Meinung zu sagen. Außerdem hat jede Frau einmal die Woche eine Einzeltherapiesitzung. Da wird dann auch über die Tat gesprochen.

Berthold: Und genau das ist wohl der Hauptgrund, warum die meisten Frauen nicht auf diese Station wollen. „Geh nicht auf die Mackestation“, heißt es in Plötzensee, „da mußt du von morgens bis abends über dein Delikt reden.“ Die Frauen haben eine höllische Angst davor, sich mit ihren Abgründen auseinanderzusetzen. Obwohl es nur fünfzehn Plätze auf der sozialtherapeutischen Station gibt, gibt es keine Warteliste.

von Zglinicki: Der Schritt dorthin ist eine bewußte Entscheidung. Die Frauen müssen sich selbst bewerben, werden daraufhin zu einem Gespräch eingeladen, absolvieren dann eine Probezeit, während der sich beide Seiten entscheiden können, ob eine Zusammenarbeit sinnvoll ist. Daraufhin müssen sich die Frauen eine Vertrauensbeamtin wählen.

Das war gerade für die Frauen aus dem Osten eine große Hürde. Die Frau Leutnants, die sie früher erlebt hatten, kannten sie noch nicht einmal mit Namen. Sie haben dort die Erfahrung gemacht, daß jeder Angestellter sie noch mal bestrafen kann.

Berthold: Das gilt natürlich auch für den Westen. Auf der Therapiestation aber haben wir wirklich großartige Mitarbeiterinnen getroffen. Wir waren sehr oft da und haben ganz bestimmt nicht nur die Schokoladenseite gesehen. Das Verhältnis zwischen Bewacherinnen und Bewachten war immer sehr kameradschaftlich.

Wieso haben sich die vier Ost- Frauen auf das Wagnis Therapiestation eingelassen?

von Zglinicki: Natürlich hatten auch sie Angst vor der „Mackestation“. Irgendwie haben sie sich aber gedacht: „Jetzt ist sowieso alles derartig chaotisch, da können wir auch das in Angriff nehmen, vielleicht ist es ja eine Chance.“

Berthold: Sie haben dann noch eine Menge Dinge angepackt: Eine hat zusätzlich eine Entziehungskur gemacht und lernt gerade für ihren Hauptschulabschluß, eine hat sich einer Wildwasser-Selbsthilfegruppe angeschlossen, zwei machen eine Ausbildung, eine ist bereits fertig.

von Zglinicki: Für jemanden, der lange gesessen hat, ist der Schritt zurück in die Normalität sehr schwer. Die Frauen haben anfangs gedacht, daß ihnen der Mord auf der Stirn steht. Dazu kommt natürlich, daß sich die Frauen aus dem Osten plötzlich in einem völlig anderen System zurechtfinden mußten, zum Beispiel lernen mußten, auf dem Arbeitsamt klarzukommen.

In der DDR gab es keine Vollzugslockerungen wie Ausgang, Freigang oder Urlaub. Wie war das eigentlich für die Frauen, nach jahrelanger Gefangenschaft plötzlich rauszukommen und dann auch noch im Westen?

Berthold: Das war ziemlich schwer für sie. Eine Frau ist mit ihrem Vater zur Wilmersdorfer Straße gefahren. Aber all das Bunte und Laute hat sie schnell fertiggemacht. Ihr ist richtig schlecht geworden; sie hat sich gegen eine Mauer gelehnt und gesagt: „Ich kann nicht mehr.“ Am Anfang waren die Frauen froh, wenn sie wieder drin in ihrer kleinen Welt waren.

von Zglinicki: Besonders schwer war es für die Frauen, plötzlich wieder bei ihren Eltern auf dem Sofa zu sitzen. Sie hätten über so vieles reden können und wußten nicht wie. Im DDR-Knast war es verboten, während der Sprechstunden über das zu reden, was einen wirklich bewegte. Über die Tat zum Beispiel oder die Hafterfahrungen. Die Menschen sind sich so ziemlich fremd geworden. Es war mühsam, an alte Kontakte anzuknüpfen, neue aufzubauen.

Wann werden die Frauen ganz rauskommen?

Berthold: Die kommen jetzt alle bis zum Herbst nächsten Jahres raus, vorausgesetzt, daß sie nur zwei Drittel ihrer Haft absitzen müssen. Wenn alles glattgeht. Denn erst müssen die Frauen noch einen Prozeß durchstehen, wo sie sich selbst vertreten müssen. Da wird dann entschieden, ob die Frauen den Zweidritteltermin kriegen. Bei diesen schweren Verbrechen kann man sich nicht 100prozentig darauf verlassen. Das ist noch eine ziemliche Hürde, auf die sich die Frauen in der Therapie systematisch vorbereiten.

Interview: Sonja Schock