■ Im vereinten Deutschland grassiert die Gehorsamskultur Charismatische Autoritäten sollen's richten
: Politik, neofeudal

Der Spiegel behauptete in der Flaute des Superwahljahres, „der gemeine Intellektuelle von heute“ wünsche sich den idealen Politiker „als Mischung aus Richard von Weizsäcker und Che Guevara“ (Nr. 37/12.9.94, S. 21). Gemeint ist damit offensichtlich die in der Tat bemerkenswerte Erscheinung, daß inmitten der allseits beklagten Durchschnittlichkeit des visions- und utopieleer gewordenen politischen Alltags „Charismatiker“ erneut eine Konjunktur erleben. Und dies um so mehr, je knapper die Ressource einer Kompetenzzuschreibung an profilierte Führungsfiguren zu werden droht.

Zeigen nicht die jüngsten, alles seitherige überragenden Personalplebiszite für den Brandenburger und den sächsischen Landesherrn, die mit satten absoluten Mehrheiten in ihrem Amt bestätigt wurden, wie groß das Verlangen nach charismatischer Autorität im Wahlvolk derzeit ist? Daß solche Kompetenzvermutungen seitens einer Wählermehrheit zugleich eine Krise parlamentarischer Institutionen signalisieren, dürfte angesichts des generellen Trends zur Verabschiedung parteipolitischer Sachkontroversen zugunsten personalplebiszitärer Entscheidungen deutlich werden.

Politik nimmt damit zusehends neofeudale Züge an, derart, daß sie wieder zu einer Angelegenheit weniger dafür Berufener zu werden scheint, auf die sich die Hoffnungen von Millionen enttäuschter Konsumenten richten. Die personal repräsentierte väterliche Hand des Staates erhält einen Vertrauenszuschuß, der für jedwede Form inner- oder außerparlamentarischer Sachopposition tödlich wirkt. Zwar ist der Trend zur Ausschaltung prinzipieller politischer Opposition schon seit Jahrzehnten im Gang, doch erfährt er neuerdings durch die fundamentalen Orientierungskrisen in allen Bereichen der Politik eine vehemente Beschleunigung.

Es scheint, als falle nicht allein in den fünf neuen Ländern der Republik die politische Kultur auf ein Niveau zurück, das in Westdeutschland während der Adenauerzeit in den 50er und 60er Jahren herrschte. Mit dem entscheidenden Unterschied, daß in jener Zeit ein durch den Ost-West-Gegensatz garantierter Schonraum die Windstille der Kanzlerdemokratie umfing, während seit 1989/90 die Turbulenzzonen der internationalen Politik gerade durch den Wegfall des weltpolitischen Feindes Sowjetkommunismus sich die demokratisch-liberalen Institutionen der Staaten des Westens auf eine harte Probe gestellt sehen.

Nimmt man das Ergebnis der beiden Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg vom 11. September als Indikator für einen allgemeinen Trend, so ergibt sich die Perspektive auf eine alternativlose politische Szenerie, in der rundum desillusionierte Bürger jede Kontinuität irgendeinem Gedanken an Wechsel vorziehen, da, wie es scheint, ohnehin „nichts Besseres nachkommt“. Der hohe Nichtwähleranteil spricht zudem für Resignation und Überdruß angesichts einer so eindeutigen Persönlichkeitswahl. Verstärkt wird diese Durchschnittshaltung durch eine in der DDR jahrzehntelang hindurch verbreitete – durchaus realitätsgerechte – Vorstellung, daß, wenn überhaupt Änderungen zum Besseren zu erwarten sind, diese allenfalls durch Vater Staat erfolgen könnten, nicht aber durch eigene Initiativen. Banal gesagt ließe sich so ein eindeutiges Vertrauensvotum für die Staatsautorität auch in den Slogan kleiden: „Wer die Kasse hat, wird gewählt“.

Für die politische Kulturforschung ergibt sich nach dieser Wahl die Einsicht, daß auch knapp vier Jahre nach der deutschen Einheit die Gehorsamskultur das stilprägende Modell politischen Verhaltens in den neuen Ländern bleiben dürfte. Zwar ist nicht zu leugnen, daß die beiden Ministerpräsidenten, denen die Akklamation des Volkes galt, jeder auf seine Weise einen überzeugenden Eindruck landesväterlicher Repräsentation zu vermitteln in der Lage sind. Doch ist der Preis der daraus entspringenden Gefolgschaftstreue kaum zu verkennen: Er besteht im Verfall wirksamer parlamentarischer Opposition, in der Herausbildung wenig demokratieförderlicher WIR-Gefühle sowie im Verschwinden substantieller Kritikchancen am Regierungskurs.

Schließlich könnte die Folgewirkung in einem Signal an alle politischen Parteien des Landes sein, noch mehr als bisher der Parole, es komme allein auf den Kanzler an, den Vorzug zu geben. Weshalb dann überhaupt noch Sachalternativen, wenn die Kandidaten selbst das Programm sind? Daß diese Imagepflege Demokratie nicht sosehr ins Ästhetische als vielmehr ins Kosmetische, ins Stiling transportiert, liegt auf der Hand. Die Schönheitskonkurrenz erübrigt jedwede Diskussion. Zur Jury sind wir, das Volk, dann allemal berufen. Die elektronische Wahlhilfe über Sat.1 ist, so gesehen, das Vorbild für alle, die es dem stabilsten Kanzler aller Zeiten gleichtun wollen.

Obwohl mit einigem Recht behauptet werden kann, daß Brandenburg und Sachsen nicht schon repräsentativ für die ganze Republik sind, läßt sich doch kaum leugnen, wie sehr auch hier das Festhalten am Grundmuster des einmal eingeschliffenen Status quo die Verhaltensweisen der Politikkonsumenten prägt. Zwar will das Juste-milieu nicht unbedingt, wie am Ende Weimars, einen Cäsar; doch scheut es jeden politischen Konflikt und liebt in erster Linie „Ordnung“ – selbst um den Preis bürgerlicher Freiheiten.

Da dies alles wohl eher den Tugendkanon einer Familie umschreibt, ist daran zu erinnern, daß Demokratie in heutigen Gesellschaften keine Sache des Vertrauens in bestimmte Vaterfiguren, sondern eher institutionalisiertes Mißtrauen gegenüber den Machtträgern sein kann. Ohne deren Kontrolle blühen am Ende nicht Landschaften, sondern Sümpfe der Korruption.

In diesem Punkt behält der jüngst verstorbene Karl Popper recht, wenn er behauptet, daß die Substanz einer demokratischen Regierung sich daran bemißt, ob in ihr die Möglichkeit garantiert ist, Interessenkonflikte offen auszutragen, ob es der politischen Opposition grundsätzlich möglich sei, ihre Alternativprogramme erfolgreich in die Praxis umzusetzen.

Sieht man sich im geeinten Deutschland heute um, so fehlt es an beidem: zentrale Konflikte werden eher moralisiert denn thematisiert, mehrheitsfähige Alternativen gar nicht erst konzipiert, geschweige denn im ständigen Diskurs mit den Wählern rational und argumentativ entwickelt. Es fehlt an einer demokratischen Öffentlichkeit. An deren Stelle tritt der medial erzeugte sekundäre politische Analphabetismus. Er bildet, je länger er währt, die Ursache der nicht bloß im Reich Berlusconis praktizierten Telekratie. In ihr aber amüsiert oder langweilt sich ein Wahlvolk zu Tode, lange nachdem die Perspektive einer offenen Gesellschaft abhanden kam. Kurt Lenk

Politikwissenschaftler, lebt in Erlangen