Wenn's eilt, gibt's hier auch Klopapier

■ Die „Kaschemme“ soll weg – die Buchhandlung Wilde in der Kreuzberger Fichtestraße, eine der ältesten Buchhandlungen in Deutschland, muß schließen

85 Jahre wird sie alt, doch nach Feiern ist ihr nicht zumute: Die Buchhandlung Wilde in der Kreuzberger Fichtestraße ist eine der ältesten in Deutschland. Nun will der Vermieter ihr Leben kurzerhand beenden – anscheinend wegen „Modernisierung“.

Unbeschadet überlebte der kleine Laden in dem Mietshaus von 1886 zwei Weltkriege und die Blockade. Stolz zeigt Inhaber Kirchner die denkmalverdächtige Einrichtung. In den originalen Holzregalen aus dem vorigen Jahrhundert steht hinter gläsernen Schiebetüren das aktuelle Herbstsortiment der Buchverlage. Jede Menge Schulbücher gibt es hier, außerdem Schreibwaren für den täglichen Bedarf. Der Inhaber, Karl-Heinz Kirchner, hat vor 21 Jahren das Geschäft von der Schwiegertochter des Firmengründers in Ratenzahlung übernommen. Seit 15 Jahren steht auch seine Frau Regine mit ihm hinter der Theke.

Manche der älteren Kunden haben schon als Kinder, ja sogar ihre Eltern haben schon ihre Schulbücher bei Wilde gekauft. So ist der Laden nicht nur eine wichtige kulturelle Versorgungsstation für den Kiez. Für die Bewohner des Hauses sind die Kirchners eine Anlaufstelle, der Briefträger gibt hier die Päckchen ab. Und wie eine Mieterin erzählt, gibt's auch mal Klopapier, wenn's eilt.

Hauptgeschäftsgrundlage ist die Belieferung der Schulen mit Lehrmaterial. Denn der winzige Laden hat – im Hinterhaus – einen überraschend großen Lagerraum, wo Kirchner mehr Schulbuchtitel als alle Konkurrenten in Berlin bereithält. Kunststück, daß die Schulbuchlieferung zwei Drittel seines Umsatzes ausmacht. Alle Kreuzberger Schulen lassen sich seit Jahren von ihm beliefern. „Zum Schulanfang ist das natürlich nicht ganz einfach. Es ist eine enorme körperliche und auch geistige Belastung, das alles zu schaffen. Wir machen da in vierzehn Tagen die Hälfte unseres Jahresumsatzes.“

Das Geschäft läuft gut. Reich werden kann das Ehepaar, das keine Angestellten hat, zwar nicht, „aber da wir fast nur glückliche und zufriedene Kunden haben, macht es auch sehr viel Spaß“. Die stolze Behauptung des Firmenbesitzers bestätigt der Augenschein. Zuvorkommende Bedienung, dazu ein 24-Stunden-Bestellservice wie in großen Buchhandlungen. Die Buchhandlung Wilde ist ein Treffpunkt, wo sich die Kunden auf den wenigen Quadratmetern gerne drängeln. Die Empörung über die Vermieter, die diese Existenz zerstören wollen, ist groß.

Aus heiterem Himmel kam die Kündigung, nach 21jährigem Mietverhältnis, ohne Begründung. „Eine rein geschäftliche Angelegenheit“, wie der Vermieter, Hans-Jürgen Hennig aus Lichtenrade, schreibt. Jegliche Entrüstung und jede Bitte um eine Vertragsverlängerung sei ihm „unverständlich“.

Für den Kleingewerbetreibenden bedeutet das den Ruin. Für den Kreuzberger Kiez das Ende einer Tradition. „Das interessiert nicht!“ wettert die Vermieterin am Telefon, „es gibt doch genügend Zeitungsläden.“ Jedes Gespräch wird Kirchner verweigert, sein schriftliches Angebot, nach der Modernisierung mehr Miete zu bezahlen, wird geleugnet: „Die Kaschemme muß raus!“

Ein Protestschreiben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der Spitzenorganisation der Branche, blieb unbeantwortet. Der Justitiar, Harald Heker, ist hilflos: „Wir haben ja keinen Anspruch darauf, daß der Vermieter mit uns spricht.“ Eine Kündigung sei eben rechtlich „völlig normal“. Mehr könne der Börsenverein auch für eines seiner ältesten Mitglieder nicht tun. Auch der Geschäftsführer des Verleger- und Buchhändlerverbandes Berlin- Brandenburg, Detlef Bluhm, beklagt, daß das Gesetz „dem Vermieter jede Willkür gestattet“. Der Kreuzberger Wirtschaftsstadtrat Wulf-Jürgen Peter jedoch zeigt sich „wild entschlossen“, alles zu unternehmen, um die alteingesessene Firma für die Kundschaft zu erhalten und um jede Spekulation auf dem Grundstück zu unterbinden. Wie er das zu tun gedenkt, bleibt vorläufig das Geheimnis des CDU-Mannes.

Juristisch ist der Kündigung nicht beizukommen. Es gibt kein Gewerbestrukturgesetz, keine Kappungsgrenzen. Die Verdrängung von Kleingewerbetreibenden aus Kreuzberg ist seit 1990 keine Seltenheit. Da sich der Vermieter als unzugänglich und starrsinnig erweist, greift Kirchner zur letzten Waffe im Kampf gegen die legale Ungerechtigkeit, die ihm die Existenz rauben will: Er geht an die Öffentlichkeit. Im Grundgesetz steht: „Eigentum verpflichtet.“ Kirchner dazu: „Ich gebe die Hoffnung nie auf!“ Stefan Bruns