Im Bann des Gleitzeitrituals

Leicht melancholische Szenen der Betriebsamkeit: Andreas Kriegenburg inszenierte (k)einen „Aufstand der Angestellten“ in der Volksbühne  ■ Von Petra Kohse

Und dann rollen sie herein: Die Oberkörper stramm nach vorne gedrückt, die Arme rudern in der Luft, die Knie sind zusammengepreßt, die Hacken knallen auf den Boden, und unterm Hintern ist der Bürostuhl angewachsen. Das ist eindrucksvoll, und das Licht im weitläufigen Bühnenhalbrund ist jetzt grün und aus den Lautsprechern schwappt Schunkelmusik.

Das Leben der Angestellten ist ein Leben in Harmonie. Sie formieren sich, greifen pantomimisch nach Akten, schlagen synchron die Beine übereinander, kratzen sich, streichen die Kleidung glatt. Dann spricht einer einen Wirtschaftswunder-Frau-mit-Herz-Schlagerparaden-Kolportagetext von Rainald Goetz, der in den Aufschrei „Rudi, Rudi, Rudi!“ mündet. Rudi Völler, versteht sich.

Später geht es um Einstellungstests, um das Glück und Elend, zur Masse zu gehören; Szenen hektischer, aber letztlich doch zufriedener Angestelltenbetriebsamkeit werden gespielt, und langsam läßt Gerd Preusche die Reihe von Aktenordnern auf dem Boden zu einem Kreis wachsen, einem Bannkreis, einem Hexenkreis um das Gleitzeitritual, der die, die an ihm teilnehmen, weit über sich hinauswachsen läßt – in die Allgemeinheit. Sie sind kalkulierbar und verwechselbar, „unsterblich wie eine Büroklammer“. Mit dem „Aufstand der Angestellten“, dieser „Szenenfolge mit Blasmusik“, knüpft Andreas Kriegenburg unmittelbar an seine Benn-Choreographie an. „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ hieß das, und es ging um Liebe, Abscheu, Leben und Sterben. Jetzt geht der Regisseur ins Detail, die Menschheit an sich muß es nicht mehr sein, die Spezies der Gehaltsempfänger ist groß genug.

Man hatte es ja geahnt: Der Aufstand der Angestellten findet nicht statt. Warum sollten sie auch aufstehen, die so nahezu unkündbar und rentenberechtigt sitzen? Die sich die Welt in ihren PC holen können und, vielleicht, über die Macht des Passwords verfügen. Und auch wenn sie wollten – gegen wen sollten sie sich denn erheben, sind sie es doch selbst, die das kompatible Universum beherrschen. Michael Günther erklärt das einleuchtend in einem der Rampenmonologe, die sich aus dem gestischen Chor zuweilen lösen. Texte von Enzensberger, eben Goetz oder auch des Regisseurs werden da gesprochen, dann tippt und tackert die Maschine weiter.

Zu Siegfried Kracauers Zeiten gab es noch ein Abgrenzungsbedürfnis der Mittelschicht, eine akute Identitätskrise, die den flanierenden Soziologen besorgt und sehr zu Recht darüber reflektieren ließ, wie leicht das Ornament dieser Masse sich in faschistischen Geraden formieren könnte. Mit einigem Mut zur Auslassung gibt Kriegenburg in seiner choreographischen Collage für die heutige Zeit Entwarnung: Der Zugang zur Festplatte ist Heilsversprechen genug. Dabei macht der sorgsam aufgeschichtete Aktenordnerbannkreis die Welt natürlich wieder zu einer Scheibe ...

Das Charmante an dieser Aufführung ist, daß Kriegenburg seine Angestellten nicht vorführt. Er liebt sie. Die beiden „Erlöser“ genannten Figuren in Gestalt von Alit Aryani und Winfried Wagner, die eine Intellektualität und Innerlichkeit schon allein in ihrer Aufeinanderbezogenheit behaupten, wirken eher peinlich betroffen von der Betriebsamkeit um sie herum, als daß sie einen Weg nach draußen wiesen. Das Elend beispielsweise der Jungsekretärin (Kathrin Angerer), die einen Brief geschrieben hat und nicht weiß, an wen sie den schicken soll, wird in all seiner naiven Verzweiflung dagegen ernst genommen.

Man kann das auf seine halb tänzerische, eklektizistische Art durchaus schon als Kriegenburgsche Ästhetik bezeichnen: dieses Aneinander-Herumzerren von Menschen, die Beziehungen zueinander haben, den gelegentlich spontanen Synchronismus der Bewegungen des Ensembles, der sich dann wieder in Gewusel auflöst. Oder die albernen kleinen Gesten, die meist an der privaten Verweigerungshaltung Castorfscher Figuren noch gerade so vorbeischliddern sowie die weitgehende Bedeutungslosigkeit des gesprochenen Worts. Diese Szenenabläufe haben stets so eine melancholisch- absurde Leichtigkeit – wohl weil die Figuren ahnen, daß etwas mit ihnen nicht stimmt, aber aus Mangel an Alternativen weiter mit Ernst betreiben, was sie eben tun. Selbst in anderen Rollen wären sie Angestellte im Geiste – so wie wir.

Dieser Abend in der Volksbühne ist nicht wirklich wichtig. Aber er ist sympathisch in seinem Versuch, einfach ein Zeitgefühl treffen zu wollen, ohne zu moralisieren. Es ist eine neunzigminütige Kolportage, begleitet unter anderem von der Bolschewistischen Kurkapelle, den Rolling Stones und Talking Heads: „We're on a road to nowhere.“ Keine Erkenntnisse, keine Anklagen. Angestellte im Publikum sehen Angestellte auf der Bühne. Die Revolution findet nicht statt. Warum auch?

Nächste Vorstellungen: heute sowie 30. 9., 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte