Keine Angst vorm Fliegen

TV-Kritiker umarmen das Fernsehen (Teil 8): Das subtilste Missionswerk seit Erfindung des Mediums – „Die Sendung mit der Maus“  ■ Von Birgit Glombitza

Ganz entgegen den Realitäten des Programmangebots beschäftigt sich die TV-Kritik stets mit dem Neuen. Dabei lebt das Fernsehen von seiner Serialität. Deshalb setzen sich die taz-KritikerInnen in dieser Serie ausschließlich mit liebgewordenen Altlasten auseinander.

Sie ist 23 Jahre alt und die einzige Maus, die größer ist als ein Elefant. Immer wenn sie ins Fernsehbild tapert, gibt es Probleme. Treppen enden plötzlich im Nichts, ein Spielkamerad zum Wippen fehlt, das Buch verschwimmt ihr vor den Augen. „Mmmmhh.“ Sinnierend starrt die Maus in die Kamera, klappert mit den Augenlidern wie mit Kastagnetten und demonstriert alsdann ihrer Millionen zählenden Anhängerschaft, daß es kein Problem gibt, das sie nicht lösen kann. Die fehlenden Stufen malt sie einfach dazu, mit einem Reißverschluß teilt sie sich entzwei und wippt mit sich selbst. Die Lesebrille schließlich fertigt sie aus dem eigenen Schwanz.

„Die Sendung mit der Maus“, eine Koproduktion von SR, SWF und WDR, transportiert mit ihrer Mischung aus phantasievollen Zeichentrick- und zutiefst rationalistischen Industriefilmen eines der subtilsten Missionswerke seit Erfindung des Fernsehens. Seit der wortkarge Kinderstar zum erstenmal auf dem Bildschirm erschienen ist, wachsen Generationen von Kindern heran, die man nicht mehr so leicht täuschen kann. Das Knäckebrot, wissen die Kleinen, kommt nicht vom Herrgott, wie das abendliche Tischgebet verheißt, nein: Ingrid und Eva, die beiden runzeligen Bäckerinnen aus Schweden, haben es gemacht. Das leckere Fruchtkaugummi ist keine Erfindung der Patentante, sondern ein Werk aus der Süßigkeitenabteilung des Fabrikproletariats.

Die Industriefilme, um die herum die Maus ihre tapsigen Auftritte zelebriert, zerlegen die Elegien aus der Schöpfungsgeschichte und sind dazu angetan, kleine Erdenbürger heranzuziehen, die auch anderen Erwachsenenmythen trotzen. Der lakonisch-ironische Sprecherkommentar widersteht der Versuchung futuristischen Frohlockens und vermittelt Lernstoff mit bisweilen eher ledernem Witz in souveräner Beiläufigkeit.

Den Spots mit der Maus und ihren Freunden hingegen sind über die bloße Problemlösung hinaus surreale Qualitäten verliehen. Wo andere Kindersendungen mit ödem Dauer-Deideidei und debilen Phantasiefiguren wie dem offenkundig der Waschanlagenbürsten-Ästhetik entlehnten Samson aus der deutschen „Sesamstraße“ in Anbiederung verharren, hält die Maus unausgesprochen Plädoyers für die Macht der Phantasie. In ihrer Welt gibt es keine Größen- und Zeitprobleme, kein Innen, das nicht eine Sekunde später Außen sein kann, keine Grenzen durch Perspektive oder Dimension, kein Körperteil, das nicht zu ganz anderen Dingen taugt, als das Kinderlexikon schreibt. In das Fernsehbild tritt die Maus wie ein zufälliger Besucher. Keine Kamera heftet sich als Dauerbegleiter an ihre Fersen. Ein Kinderstar mit „Ereignischarakter“. Aber die Maus, die da jeden Sonntag nach halb zwölf den Alltagszauberer gibt, hat auch ein Privatleben außerhalb des Fernsehbildes – ein raffiniertes pädagogisches Manöver, das gequälten Eltern Argumente liefert: „Die Maus kann eben auch nicht immer.“

Zunächst trat sie ganz allein auf. Nach vier Jahren gönnte Erfinder Friedrich Streich seinem valensinabunten Fabelwesen einen kleinen Freund. Seither trompetet und trampelt ein gerade mal halb so großer Elefant über den Bildschirm, wechselweise als treuer Gefährte oder als charmantes Hindernis. 1987 kam eine Ente dazu, die „nichts richtig kann, nicht einmal fliegen“ (Friedrich Streich). Seit sie mitwatschelt, haben sich Maus und Elefant zu Charakteren herangebildet, die Sonntag für Sonntag Konfliktstrategien für die Kleinfamilie entwerfen. Persönliche Schwächen werden in fast sadistischer Ausgiebigkeit präsentiert und dann kameradschaftlich gelöst. Daß die Ente zu blöde zum Fliegen ist – macht nichts, bläst der Elefantenrüssel sie eben in die Luft. Echte Tiere zeigt die „Sendung mit der Maus“ in Unterhaltunsfilmchen, die in Dramaturgie und Ästhetik jeder Reality-TV- Produktion zur Ehre gereichen würden. Die Abenteuer von Max dem Grasfrosch werden von der Kamera unbarmherzig verfolgt. Hüpft Max auf der Flucht vor monströsen Störchen durchs Gras, hüpft die Kamera mit. Und die atemlose Spannung, ob denn die Flucht auch wirklich gelungen ist, wird über eine raffinierte Schnittfolge eingefangen, die jede „Derrick“-Folge an Dramatik um Längen schlägt.

Gelegentlich wagt sich die Sendung auch in Regionen, die die meisten Eltern eigentlich erst für spätere Lebensabschnitte ihrer Sprößlinge vorgesehen haben. Tintenfisch Ferdinand etwa balzt völlig ungehemmt. „Wenn er besonders aufgeregt ist“, vermerkt der Sprecher mit gedämpfter Stimme, „wird er immer weißer und weißer.“ Am Ziel „schiebt Ferdinand einen ganz besonderen Arm in den Beutel des Weibchens.“ Zu Hause wird er dann seinem Freund, dem Igelfisch, verraten, woher die kleinen Tintenfische kommen.

Erotik, Todesangst, Surrealismus, Marxismus und Poesie – „Die Sendung mit der Maus“ bereitet den kleinen TV-Zuschauer respektvoll und ziemlich umfassend auf das spätere Leben vor. Dann und wann allerdings melden sich auch kritische Stimmen. „Ich bin sechs Jahre alt und guck' die Sendung mit der Maus, sooft es geht“, schrieb ein Maus-Fan an die Redaktion. „Wiederholungen finde ich nicht so gut, und die Ritter oder Dinosaurier sollen auch vielleicht mal kämpfen, weil, das finde ich nämlich noch interessanter.“