Konfuzianische Moralfassade

Dreharbeiten gestoppt, Berufsverbot erteilt: Der Regisseur Zhang Yimou und die Krise des chinesischen Kinos zwischen Ökonomie und Zensur  ■ Von Tony Rayns

Das einzige, was sich in der gegenwärtigen, wie immer chaotischen Situation mit Sicherheit sagen läßt, ist, daß die Dreharbeiten zu Zhang Yimous Film „Shanghai Triad“ gestoppt worden sind. Variety behauptet außerdem, Zhang dürfe für fünf Jahre an keiner ausländischen Produktion mehr mitarbeiten und weder er noch seine Lebensgefährtin Gong Li dürften internationale Festivals bereisen. Niemand sagt einem genau, wer die Entscheidung getroffen hat oder warum, und was die Konsequenzen für Zhang Yimou selbst sein werden. Vergangene Woche habe ich Zhang Xingyan, dem Leiter der Auslandsabteilung des Filmbüros in Peking, ein Fax geschickt, in dem ich ihn bat, das Gerücht, Yimou habe für mindestens zwei Jahre Berufsverbot erhalten, zu bestätigen oder zu dementieren. Ich habe nie eine Antwort erhalten. Wie die anderen Regisseure der „Fünften Generation“ – Chen Kaige, Tian Zhuangzhuang, Li Shaohong, Wu Ziniu und Ning Ying – war Zhang Yimou seit über fünf Jahren von ausländischer Finanzierung abhängig. Diese Abhängigkeit ist Ausdruck verschiedener Faktoren: des Niedergangs des chinesischen Studiosystems, des Wunsches der Regisseure, Techniker und Schauspieler, angemessen bezahlt zu werden, und schließlich auch der Zugang zu professioneller internationaler Distribution.

Ausländische Finanzierung (die vor allem aus Hongkong, Taiwan und Japan kam) hat chinesischen Filmemachern auch einen gewissen Schutz vor der Unberechenbarkeit des chinesischen Zensursystems geboten. Alle fremdfinanzierten Filme mußten ihr Drehbuch im voraus absegnen lassen. Aber ihre Negative wurden in Übersee bearbeitet (meistens in Tokio), so daß ihre Produktionsgesellschaften die Kontrolle über die internationale Distribution behalten konnten. Diese Nische war für Zhang Yimous internationalen Ruf unverzichtbar. Die ersten beiden Filme, die er nach dem Tiananmen-Massaker gedreht hatte, „Ju Dou“ und „Die Rote Laterne“, waren beide in China aus undefinierten Gründen verboten, aber ihre jeweiligen japanischen und taiwanesischen Produzenten reichten sie bei Festivals ein und verkauften sie überall in der Welt. Wenn diese Filme für ein chinesisches Studio gedreht worden wären, hätten nur wenige sie sehen können, und Zhang Yimou wäre nie ein Starregisseur geworden.

Vor zwei Jahren, als „Die Geschichte der Qui Ju“ den Goldenen Löwen in Venedig bekam, fingen die chinesischen Autoritäten plötzlich an, Zhang Yimou in die Arme zu schließen. Gong Li und er wurden aus Venedig nach Peking zurückgerufen und mit einem Staatsbankett gefeiert. Plötzlich wurden „Ju Dou“ und „Die Rote Laterne“ zum Start in China freigegeben. „Qiu Ju“ bekam die höchsten chinesischen Filmpreise. Als Zhang im Sommer 1993 das Skript seines letzten Films „Leben“ bei der Vorzensur einreichte, wurde es ungewöhnlich schnell genehmigt. Es schien tatsächlich, als hätte Zhang alle seine politischen „Schwierigkeiten“ hinter sich. Als „Leben“ dann aber in der Produktion war, änderte sich die Lage. Ende des Jahres 1993 gab das Filmbüro strikte Maßnahmen bekannt, mit denen „Koproduktionen“ (damit waren fremdfinanzierte Filme gemeint) kontrolliert und der plötzliche Anstieg unabhängiger Filmproduktionen gekappt werden sollten. Als dann die Post-Production für „Leben“ im Gange war, im März dieses Jahres, schlug die Stimmung wieder eindeutig gegen Zhang Yimou. Zhang hat mehr als genug Feinde im chinesischen Filmgeschäft – manche von ihnen sind andere Filmemacher, die ihm seinen internationalen Erfolg neiden – und diese Leute begannen eine Kampagne von Gerüchten und Verdächtigungen gegen ihn und seinen Film.

Die Produktionsfirma ERA International behandelte „Leben“ genau wie seinen früheren Film, „Die Rote Laterne“: er hatte seine Uraufführung auf einem großen Festival (in diesem Fall Cannes), und ERA verteilte die ersten Kopien an Verleiher in aller Welt, die den Film noch im Skriptstadium angekauft hatten. Die Firma erhielt ein Schreiben von ihrem nominellen Koproduktionspartner in China, dem Shanghai Filmstudio, in dem es hieß, man hätte den Film zunächst der Zensur vorlegen müssen, bevor man ihn irgendwo anders hinschickte – eine andere offizielle Mitteilung hat die ERA nicht erhalten. Die Firma wies in einem Antwortschreiben auf ihre vertraglichen Rechte und Pflichten hin, zu denen Vorführung und Verkauf des Filmes gehörten – die chinesische Zensur sei eine innere Angelegenheit, die nur den Vertrieb in China selbst betreffe. Ohne Zweifel aus düsterer Vorahnung beschloß Zhang Yimou, der Premiere seines Films in Cannes gar nicht erst beizuwohnen, um den Ärger der Behörden auf den fertiggewordenen Film nicht noch anzustacheln. Auf der Pressekonferenz wurde er von einem leeren Stuhl repräsentiert.

Kein Zweifel: diese traurige Geschichte steht in direkter Beziehung zum Stopp der Dreharbeiten an „Shanghai Triad“. Das Skript für diesen neuen Film war im Mai dieses Jahres eingereicht worden, aber eine Entscheidung darüber war nie zurückgekommen. Der Film sollte zum größten Teil von der französischen Firma UGC finanziert werden, deren Unerfahrenheit in Sachen Koproduktion mit China ein Grund dafür gewesen sein mag, daß das Projekt jetzt in diese Sackgasse geraten ist. Zhang Yimou blieb im Sommer gar nichts anderes übrig als anzunehmen, daß das Projekt irgendwann schließlich doch durchkommen werde, und außerdem war er mit der Vorproduktion beschäftigt. Nun steht fest, daß der Film nicht mehr in diesem Jahr gedreht werden wird, und es ist möglich, daß er völlig aufgegeben werden muß. Zudem geht das Gerücht, es sei Zhang verboten worden, in nächster Zukunft überhaupt noch einen Film mit einem ausländischen Produzenten zu drehen.

Zum Teil ist Zhang ein Opfer der Umstände. Chinas Ministerium für Radio, Film und Fernsehen, dessen Hoheit über die Filmindustrie vom Filmbüro verwaltungstechnisch umgesetzt wird, hat schon seit geraumer Zeit versucht, das chinesische Produktionssystem zu „reformieren“. Das läuft im wesentlichen darauf hinaus, daß man versucht, die Filmproduktion vom öffentlichen Sektor auf den privaten zu verlagern. Das bedeutet einerseits, daß man sie von der Verpflichtung entlastet, dem Staat zu dienen, aber andererseits soll sie eben finanziell auch auf eigenen Füßen stehen. Diese Reform wird, gelinde gesagt, dadurch behindert, daß es in den sechzehn staatlichen Filmstudios keine kompetenten Manager gibt. Keiner von ihnen hat die Erfahrung oder die Weitsicht, ein Studio nach kommerziellen Richtlinien zu führen; keiner von ihnen würde den Anforderungen an einen Produzenten im westlichen Sinne genügen. Dieses Hindernis ist allerdings ein relativ geringes, verglichen mit der Weigerung der Regierung, die politischen Kontrollen zu lockern. In der Filmproduktion wie in jeder anderen Branche der chinesischen Wirtschaft will Peking ökonomische Reformen ohne politische Reformen.

Zwei Filme forderten im letzten Jahr den Eingriff der Behörden heraus. Tian Zhuangzhuangs „Der Blaue Drache“ war als gewöhnliche „Koproduktion“ geplant; er wurde im Filmstudio Peking gedreht und aus Hongkong finanziert, insgeheim mit einigen zusätzlichen Mitteln aus Japan. Das Negativ wurde zur Bearbeitung nach Tokio gebracht, die Kopien kamen zurück nach Peking, und Tian schnitt den Film im Schneideraum des Studios. Während dieser Phase beschuldigten anonyme Briefe an das Filmbüro Tian, er sei vom ursprünglichen Skript abgewichen und habe einen „Anti-KP“-Film gemacht. Die Behörden bestanden darauf, die Endfassung zu sehen, befanden, sie enthalte tatsächlich nicht genehmigtes Material und untersagten ihm, nach Tokio zu gehen um den Film fertigzustellen. Deshalb war das Filmbüro einigermaßen überrascht, festzustellen, daß der Film letztes Jahr in Cannes gezeigt wurde. Die gegenwärtigen Restriktionen gegen „Koproduktionen“ (insbesondere das Verbot, das Negativ außer Landes zu schaffen, bis das Filmbüro die Erlaubnis erteilt hat) sind ausdrücklich dazu gedacht, eine Wiederholung des Fiaskos um „Der Blaue Drache“ zu verhindern.

Während „Der Blaue Drache“ dem Filmbüro durch die Finger glitt, arbeitete der junge Zhang Yimou am Schnitt seines zweiten Spielfilms „Beijing Bastards“, einem Cassavetes-artigen Bericht über streunende Kinder auf den Straßen Pekings, der sich auf die Rockmusik-Subkultur der Stadt konzentrierte. Wie sein erster Film „Mama“ war er unabhängig produziert worden, ohne offizielle Genehmigung des Drehbuchs. Er war privat aus Hongkong und Peking finanziert worden. Zhang Yuan und andere Regisseure seiner Generation haben in den letzten Jahren auf diese Art des unabhängigen Filmemachens zurückgegriffen, weil es für sie keine Lücken in der staatlichen Filmindustrie gibt. Sie haben 1989 an der chinesischen Filmhochschule, der Beijing Academy studiert – zu einem schwierigen Zeitpunkt nicht nur wegen der Studentendemonstrationen, sondern auch, weil genau in diesem Augenblick das Filmbüro begann, Druck auf die Studios auszuüben, ihre Verluste einzuschränken und sich finanziell zu sanieren. Konfrontiert mit Arbeitslosigkeit und Frustration nahmen Zhang Yuan

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und andere die Dinge in die eigenen Hände, indem sie ihre Projekte an private Financiers herantrugen und ihre Filme eben außerhalb des „Systems“ machten. Das Filmbüro rächte sich im Frühjahr 1994, indem es sieben der unabhängigen Regisseure auf eine schwarze Liste setzte. Einer von ihnen war, unweigerlich, Zhang Yuan selbst.

Die Ironie besteht natürlich darin, daß die Maßnahmen des Filmbüros ausgerechnet die einzigen Bereiche des Filmemachens treffen, in denen in den letzten zwei Jahren überhaupt Lebendigkeit und Wachstum zu bemerken waren. Der Gesamteindruck ist chaotisch: Die Zahl der Kinogänger befindet sich im freien Fall, die Preise für Karten sind in die Höhe geschossen, und das Produktionslevel der staatlichen Studios ist das niedrigste seit der Kulturrevolution. Buchstäblich alle chinesischen Filme, die in den letzten Jahren internationalen Anklang fanden, sind fremdfinanzierte „Koproduktionen“ von Regisseuren der „Fünften Generation“. Indem sie ausländische Firmen davon abhalten, in chinesische Produktionen zu investieren, und indem sie die unabhängigen Regisseure zum Schweigen bringen, machen die Autoritäten dem chinesischen Kino den Garaus.

Zhang Yimous persönliche Probleme mit den Behörden stammen noch aus der Kulturrevolution: einer seiner Onkel war ein Offizier in der Kuomintang, der ihm also eine „schlechte Klassenherkunft“ vererbte. Ursprünglich hatte man ihm einen Studienplatz an der Filmakademie mit der Begründung verweigert, er habe die Altersgrenze überschritten; er erhielt den Zugang erst, nachdem er persönlich beim Kultusminister vorstellig geworden war. Nach dem Abschluß hatte man ihn an das unbedeutende und abgelegene Guanxi Filmstudio geschickt, wo er drei bedeutende „Fünfte Generation“- Filme drehte (zwei davon von Chen Kaige inszeniert); alle drei hatten Probleme, die Zensur zu passieren. Als er 1987 Regisseur wurde, um „Das Rote Kornfeld“ zu inszenieren, starteten einige maoistische Hardliner im Politbüro eine Kampagne gegen den „bürgerlichen Liberalismus“. Der Goldene Bär, den der Film erhielt, brachte ihm zu Hause nichts als Ärger ein. Sein sehr öffentliches Verhältnis mit seiner Hauptdarstellerin Gong Li war ebenfalls ein Affront gegen die herrschende Klasse, die großen Wert auf die Wahrung der Fassade einer konfuzianischen Moral legt.

Gegenwärtig legen Gerüchte nahe, daß der Aufstieg eines Hardliners im Propagandaministerium, Ding Guang'gen, für die Kämpfe um Zensur verantwortlich ist. Sie sind nur ein kleiner Anfang von dem, was passieren wird, wenn Deng Xiaoping schließlich seinen letzten Atem aushaucht.

Der Autor ist ein in London lebender Filmwissenschaftler, der seit Jahren die fernöstliche Filmproduktion beobachtet und für internationale Fachzeitschriften kommentiert

Übersetzung aus dem Englischen:

Mariam Niroumand