„Ein Linker sitzt nicht da und frißt kleine Kinder“

Er will unbedingt wieder in den Bundestag, dabei geht es ihm da gar nicht gut: „Ein Lump“ sei er, hetzen die Kollegen aus anderen Fraktionen, „schlimm wie Hussein.“ Warum Gregor Gysi sich das alles antut, darüber grübelt er nicht so gern: „Ich habe Angst, mich dann zu zerstören.“ Der PDS-Mann aus dem Osten hat Großes vor: „Die SPD will er nach links ziehen, die Grünen vor ihrem Schicksal als zukünftige FDP bewahren und die Menschen „aufwecken“ und ihnen klarmachen, woran er noch immer glaubt – der deokratische Sozialismus ist machbar.  ■ Ein Gespräch mit Arno Luik

taz: Herr Gysi, in Ihrem Vorzimmer sitzt ein ungeduldiger Journalist aus den USA, von der „Baltimore Sun“.

Gysi: Seit wir solchen Erfolg haben bei Regional- und Kommunalwahlen, wird das langsam verrückt hier. Journalisten- und Kamerateams sind plötzlich da und blasen normale Ereignisse auf, als ob die Zukunft Deutschlands oder der ganzen Welt davon abhinge – das ist grotesk, einfach grotesk.

Die wollen eine aussterbende Spezies erleben: Den Kommunisten, der sich noch vor die Kameras traut – und auch noch schlagfertig ist.

Ich bin kein Kommunist.

Den Sozialisten, der...

Ich bin ein demokratischer Sozialist, der...

...Angst und Schrecken verbreitet: der totgeglaubte Kommunismus kommt wieder.

Nein, die erfinden ihn und somit auch uns, weil sie ohne ihre Kämpfe von gestern nicht leben können, weil sie unbedingt den Kalten Krieg fortsetzen wollen. Und für diesen irrationalen Wahn – früher waren dafür die Sowjetunion, Ungarn, Rumänien, Albanien, Polen, die ČSSR, die Mongolei und natürlich die DDR da – muß nun die kleine PDS herhalten.

Muß ich Sie bedauern?

Müssen Sie nicht. Ich finde, wir schlagen uns ganz tapfer, wenn man bedenkt, daß sich da alle einig sind: von Bündins 90/Grüne bis hin zur CSU – eine erstaunliche Volksfront.

Ja, mein Gott, was erwarten Sie denn: Ihre Partei ist die Partei der Stasi-Spitzel, NVA-Offiziere, Leuteschinder...

...das ist völliger Unsinn. Die PDS ist, obwohl sie immer noch als ein Relikt der DDR behandelt wird, schon längst ein Produkt dieser Bundesrepublik...

...und Sie werden mir das nun so begründen: 2,18 Millionen SED- Mitglieder sind ausgetreten.

So ist es. Die Mitgliederstruktur ist eine völlig andere. Von den schlimmsten Verantwortungsträgern haben wir uns bis März 1990 im Ausschlußverfahren getrennt. Aber dann haben wir gesagt: Wir werden nicht die SED-Methoden fortsetzen und uns über Disziplinierung säubern. Wir müssen akzeptieren, daß sich jeder und jede ändern kann. Man kann sich nicht mit einer Bevölkerung vereinigen und sie in Wirklichkeit gar nicht wollen. Der alten Bundesrepublik wäre es ganz recht, wenn es im Osten nur Neugeborene gäbe. Wenn ich im Westen auftrete, werde ich manchmal so angestaunt, als ob ich Vorsitzender irgendeiner indischen Partei wäre – so fremd ist das.

Vielleicht hat diese Distanz andere Gründe: Sie sind ein Vertreter jener Clique, die den Gedanken der Utopie zertrümmert hat.

Ich bitte Sie: Die Mauer ist doch nicht vom Himmel gefallen! Ihr habt sie doch gesehen! Wenn ich das nun erlebe, bei so vielen Intellektuellen, daß mit dem Zerfall des real existierenden Sozialismus alle Hoffnungen zerstört worden seien, sage ich nur: Wo habt Ihr denn gelebt? Dieses nachträgliche Entsetzen ist für mich unverständlich – vorsichtig gesagt.

In Ihrer Truppe sind Leute, die dieses Entsetzen mitproduziert haben: Ihr Wahlkampfleiter André Brie hat bis 1989 für die Stasi gearbeitet.

Ich habe keine Berührungsängste mit ihm. Er ist ein hochbegnadeter Intellektueller mit sehr demokratischen Sozialismusvorstellungen. Er war inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, aber: kein einziger seiner Kollegen, über die er informiert hat, ist auch nur die Reisekaderfähigkeit abgesprochen worden. Er war derjenige, dem die Reisekaderfähigkeit abgesprochen wurde, weil er sich gegen das Verbot der Zeitschrift „Sputnik“ ausgesprochen hatte.

Ich verstehe: Der IM André Brie war ein Widerstandskämpfer.

Was Sie verstehen sollten, ist, daß das Leben nicht so einfach ist. André Brie hatte mit internationaler Friedenspolitik, Rüstung und Abrüstung zu tun, so daß ein sicherheitspolitisches Interesse anders zu beurteilen ist.

Das sehe ich nicht so.

Und er hat ja Konsequenzen gezogen: Er ist als stellvertretender Bundesvorsitzender zurückgetreten, er hat den Berliner Landesvorsitz aufgegeben, in über hundert Versammlungen hat er – Akte unterm Arm – sein Verhalten erläutert. Es gibt keinen Grund, warum die PDS ihn nicht als Wahlkampfleiter haben sollte – er kandidiert ja für kein Parlament.

Aber es wäre doch leichter ohne so umstrittene Mitglieder.

Es ist doch nicht unsere Aufgabe, es uns leichtzumachen. Aber warum ist eigentlich nur die PDS stigmatisiert? Wieso hat die SPD keine Vergangenheit, wenn Sie Herrn Stolpe als Ministerpräsident hat? Wieso hat die FDP nichts mit der Geschichte der DDR zu tun, wenn sie die LDPD geschluckt hat? Wieso hat die CDU keine Vergangenheit, wenn sie die DDR-CDU übernommen hat? Wieso darf Bernd Seite so tun, als ob er DDR-Widerständler war, obwohl er höchst angepaßt lebte? Nein, wir gehen mit den Biographien und den Geschichten der Menschen ehrlicher um.

Finden Sie?

Ja. Und das könnten auch Sie als Westler gemerkt haben. Unsere wachsende Akzeptanz im Osten hat unter anderem damit zu tun, daß die Leute erkennen, daß unsere Erneuerung ehrlich ist. Glauben Sie nicht, daß die Menschen im Osten das nicht besser beurteilen können und daß man darüber im Westen mal nachdenken sollte? Es wäre doch absurd, daß sie, die die SED zum Teil als schlimm erfahren haben, diese PDS, wenn sie sich nicht erneuert hätte, wiederhaben wollen.

Vielleicht ist es auch einfach eine Trotzreaktion, nach dem Motto: Mit der PDS ärgern wir die in Bonn am meisten.

Vielleicht wollen die Menschen einen Platz in der Gesellschaft? Vielleicht haben sie das Gefühl, er wird ihnen verwehrt? Und vielleicht haben sie den Eindruck, daß die PDS das am besten begreift und auch wirklich versucht, dafür zu kämpfen?

Der Vorwurf, daß Sie belastete Personen mittransportieren, kommt nicht nur von Kalten Kriegern. Die PDS-Vorstandsfrau Karin Dörre hat das lasche Umgehen mit der Stasi-Vergangenheit attackiert: Es werde „gemauschelt und gekungelt“ wie früher bei der SED.

Die Vorwürfe sind zum Teil absurd. Und daß Karin so auftritt, belegt wohl auch eher das Gegenteil. Wir sind eine basisdemokratische Partei, eine ziemlich chaotische, mit recht geringer Führungsautorität, unsere Vorstandssitzungen sind öffentlich – so etwas gibt es in keiner anderen Partei.

Und wenn Sie...

Ich weiß, was Sie wollen. Wenn Sie mich jetzt noch nach der stellvertretenden Vorsitzenden Kerstin Kaiser fragen, werde ich Ihnen sagen: Ich bin gegen ihre Kandidatur zum Bundestag.

Fakt ist: Sie zieht keine Konsequenzen...

Ihre Kandidatur wurde basisdemokratisch entschieden – das habe ich zu respektieren. Sie hat die IM- Vorwürfe gegen sie zu spät öffentlich gemacht. Das reicht mir nicht. Die Frage ist: Ist es ein Fall von Denunziation oder nicht? Aber das bedeutet nicht, daß ich ihre Rolle im Erneuerungsprozeß der Partei geringschätze, insbesondere bei Fragen der Feminisierung unserer Politik.

Wer sich heute bewährt und wichtig ist, dem vergibt man schon aus taktischen Gründen?

Das wichtigste ist der offene, ehrliche Umgang mit der Vergangenheit.

Herr Gysi, Sie sind ein begnadeter Lügner und grandioser Aufschneider...

Ich bin weder das eine noch das andere, aber ich bin jetzt gespannt, was Sie nun schon wieder haben.

Auf die Frage, wie Sie einem Blinden Ihr Äußeres beschreiben würden, haben Sie gemeint: „Groß, stark, schlank, mit tollen Locken.“

Ich habe einen Hang zur Ironisierung. Das hat mit meiner Kindheit zu tun. Ich mußte mir meine eigene Stellung erkämpfen. Mein Vater war ziemlich dominant.

Er war Kultusminister der DDR. Den Job hat er auch deswegen bekommen, weil er so schön über Bücher reden konnte – ohne sie gelesen zu haben.

Er ist noch immer ein begnadeter Geschichtenerzähler, und ich mußte mich damals gegen ihn behaupten. Und das hat bei mir wohl zur Selbstironie geführt.

Humor, meint Freud, ist ein Mittel, um Schmerz und Leid zu umgehen.

Ich will das nicht tiefenpsychologisch analysieren. Ich will nicht wissen, ob mein Humor Ausdruck von irgendwas ist – sonst verliere ich ihn.

Sie haben, meint Ihre Mutter, den Beruf verfehlt: Im Grunde seien Sie ein begnadeter Schauspieler. Und als Kind haben Sie Filme synchronisiert...

...russische Filme, aber da war ich nicht so gut, und italienische und französische Filme. In „Die große blaue Straße“ war ich der Synchron-Sohn von Yves Montand, und ich war auch in einem Fernsehspiel dabei – aber das war eine Katastrophe. Das Kapitel Schauspieler war für mich schon als Kind erledigt. Aber eigentlich möchte ich, obwohl ich's gerade tue, nicht darüber reden.

Ist doch nichts Ehrenrühriges. Auch Fidel Castro hat in vielen US-Spielfilmen mitgemacht.

Ja, eine Zeitlang dachte jeder, ich würde Schauspieler werden. Schon aus purer Opposition habe ich dann etwas anderes gemacht. Aber Sie lieben den großen Auftritt. Sind Sie deswegen Anwalt geworden?

Ach was, in der DDR-Justiz gab es keine Möglichkeit für große Auftritte. Daß ich Rechtsanwalt wurde, ist ein Zufall. Irgendwann hat mich eine Bekannte, deren Mann Rechtsanwalt war, gefragt: „Warum studierst du denn nicht Jura?“ „Jura“, meinte ich, „was soll ich denn damit? Da muß ich ja alle Gesetze auswendig kennen.“ „Nein“, meinte sie, „du mußt nur wissen, wo sie stehen. Mein Mann sagt immer: „Jura ist ein Studium für Doofe.“ Aus Gründen der Bequemlichkeit fand ich das prima, aber dann kam's doch ganz anders.

Plötzlich waren Sie Politiker?

1989 habe ich mir gesagt: Jetzt ist Schluß. Hier muß sich was ändern! Mir hat nicht mehr genügt, was als Anwalt so befriedigend sein kann: dem einzelnen zu helfen. Ich wollte in der Gesellschaft generell etwas verändern und bin immer stärker politisch aufgetreten.

Warum aber, um Gottes willen, in dieser Partei?

Weil ich aus ihr kam. Weil ich Sozialist bin. Und weil ich ihre Erneuerung wollte. Und deswegen habe ich die SED auch attackiert, sie als reaktionär bezeichnet. Plötzlich war ich ihr Vorsitzender. Viele haben hier gesagt, ich hätte den Vorsitz wie ein Mandat, wie ein Verteidiger angenommen. Da ist was Wahres dran: Die Dissidenten und andere, für die ich mich bisher eingesetzt hatte, brauchten mich jetzt nicht mehr und...

...deswegen haben Sie jene Parteimaschinerie übernommen, die Ihre Klienten schikaniert hat. Das, mit Verlaub, ist ein bißchen verrückt.

Robert Havemann hat mal auf meine Frage, warum er nicht aus der SED ausgetreten ist, geantwortet: Warum denn? Das ist doch meine Partei, nicht die von Honecker! Nicht wenige haben so empfunden, auch ich. Aber da gibt es viele Gründe: Eitelkeit spielt wohl mit, mein Gefühl für Gerechtigkeit, dieser Anwaltsinstinkt, Angegriffene zu verteidigen.

Vielleicht war ja alles ganz anders? In dem Buch „Komplott“ von Ralf Rueth wird Ihr Weg an die Spitze der SED prosaischer eingeschätzt: Der KGB habe auf Sie und Markus Wolf als Putschisten gegen Honecker gesetzt – ein letzter, verzweifelter Versuch, den Sozialismus in der DDR zu retten.

Diese Komplott-Theorien sind Tinnef. Auch Honecker behauptet in seinen Memoiren, ich hätte das alles jahrelang mit Markus Wolf vorbereitet. Wolf habe ich zum ersten Mal am 4. November 1989 getroffen, bei dieser großen Demo auf dem Alex. Diese Komplott- Theorien sollen die wahren Ursachen des Scheiterns des real existierenden Sozialismus verschleiern. Es ist bequemer, von bösen Feinden überrumpelt worden zu sein, als über Konstruktionsfehler des Systems nachzudenken.

Aber warum haben Sie diese SED nicht liquidiert und ganz neu angefangen?

Eine Auflösung der SED war historisch weder sinnvoll noch möglich. Mein erstes Telefongespräch als Parteivorsitzender führte ich im Dezember '89 mit Gorbatschow. Und er sagte zu mir: „Wenn du die SED auflöst, löst sich die DDR auf, wenn sich die DDR auflöst, löst sich die Sowjetunion auf.“ Wenn Sie als kleiner Advokat plötzlich derart in die Politik getragen werden, da spüren Sie eine Last, die Ihnen eine Idee zu groß ist. Diese Verantwortung konnte ich nicht auf mich nehmen.

Also ist Gorbatschow schuld, daß Sie jetzt die Alt-SEDler an der Hacke haben?

Irgendwie wohl mit schuld, denn wegen ihm bin ich in die Politik. Aber es ging damals dann sehr schnell um die Frage: Wie gestaltet man den Übergang friedlich? Die SED hatte 44.000 hauptamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Mit einer Auflösung der Partei hätten wir die ins Nichts gestoßen – es gab in der DDR keine Regelung für Arbeitslose. Das war nicht zu verantworten in einer Zeit, in der gerade das Ministerium für Staatssicherheit mit seinen 85.000 Mitarbeitern aufgelöst wurde. Es war nicht abzusehen, was daraus wird.

Sie haben eine Revolte verhindert?

Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht, es ist schon denkbar.

Man hätte damals, aber man hat ja nicht, bedauerte später Wolf Biermann, einige Leute aufknüpfen sollen: à la lanterne!

So sehen das auch viele Konservative. Der reaktionäre CDU- Mann Johannes Gerster sagte sinngemäß, es wäre besser gewesen, es wäre Blut geflossen. Er hat dann eingeschränkt, einmal begonnene Gewalt ließe sich nicht so einfach wieder abschalten. Jedenfalls müsse sich dann der Rechtsstaat mit bestimmten Leuten jetzt nicht rumschlagen. Das wird man wohl anders sehen dürfen.

Wenn Sie im Bundestag...

...da ist viel Haß.

...ans Rednerpult gehen, wird Ihnen zugebrüllt, was Sie für einer sind: „der Nachlaßverwalter des Bösen“, „ein Lump“ und „schlimm wie Hussein“; Sie sind, ganz einfach: „eine Zumutung“.

Auf mich sind auch schon Abgeordnete zugekommen und haben mir direkt ins Gesicht gesagt: „Sie widern mich an.“ So etwas tut weh. Ich möchte jetzt nicht öffentlich machen, wie ich solche Attacken verarbeite. Es ist nicht leicht. Es gibt da so einen Druck, daß man versucht ist, mal was zu sagen, daß die auch mal freundlich reagieren. Man möchte ja als Mensch behandelt werden. Aber davon darf man sich nicht leiten lassen.

Ihre Rede zum Golfkrieg war kurz, 100 Zeilen lang – gut 20 Zeilen lang waren die Beleidigungen.

Da habe ich gedacht, die werden jetzt handgreiflich. Eine so aggressive Stimmung habe ich im Bundestag weder vorher noch nachher erlebt. Die rechte Seite im Saal hatte jedes Niveau verloren. Beim Rausgehen zischten mich Abgeordnete an, so etwas und so jemand gehöre nicht ins Parlament. Ich muß da in eine Wunde getroffen haben. Aber ich war so ein bißchen stolz auf mich, denn es ist gar nicht so einfach, gegen eine geschlossene Front anzusprechen.

Da müssen sich doch Aggressionen aufstauen.

In der DDR habe ich gelernt, mit Haß und Angriffen umzugehen. Ich wurde 1971 Anwalt – und da habe ich oft Verhandlungen geführt gegen eine eisige Front. Aber manche in unserer Bundestagsfraktion haben am Anfang diese kühle Ausgrenzung und selbstgefällige Arroganz nicht verkraftet. Normalerweise läßt du deine Aggressionen am Ehepartner oder den Kindern aus – aber die waren ja nicht in Bonn, Gott sei Dank.

Aber die PDS buhlt eben doch um Anerkennung, manchmal fast krampfhaft, wie es scheint. Geradezu rührend sei es, hat die SZ beobachtet, wie Ihre Fraktion sich freut, wenn sie mal offiziell eingeladen wird – und sei es nur zu „einer Volkstheateraufführung“.

Ich habe den Genossen immer wieder gesagt, es sei nicht ihre Aufgabe, bei der SPD oder der CDU beliebt zu sein und einen freundlichen Platz zu bekommen: „Du bist ja gar nicht so schlecht!“ Das zu lernen ist nicht so einfach für Leute, die aus einer staatstragenden Partei kommen. Aber es ist ein wichtiges Moment, um linke, unbestechliche Politik zu machen.

Sie bekommen Haßbriefe, werden als „Scheißjude“ beschimpft.

Im Osten bin ich in Briefen noch nie als Jude beschimpft worden, auch nicht bei Morddrohungen. Drohungen aus dem Westen gehen fast immer in die antisemitische Richtung.

Haben Sie Angst?

Eigentlich nicht. Wenn ich richtig ängstlich wäre, könnte ich diese Politik nicht machen. Und wenn nicht Gegenerlebnisse da wären, könnte ich das auch nicht aushalten. Sympathiebeweise sind wichtig. Die Kriege bei meinen Veranstaltungen. Aber ich hatte schon Phasen, da hatte ich die Schnauze voll. Als ich zum Hauptschuldigen der SED ernannt wurde, da fand ich das schon ungerecht, daß ich die Dresche für Honecker beziehe. Aber man rafft sich auf, man macht weiter.

Das klingt nach Masochismus.

Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber – wie gesagt – ich möchte jetzt keine psychologische Innenschau. Ich habe Angst, mich dann zu zerstören. Das ist wie bei einem Tausendfüßler, der darüber nachdenkt, wie er das macht mit seinen tausend Füßchen, und plötzlich kann er nicht mehr laufen.

Ein Juso hat mal zu Ihnen gesagt: Kommen Sie zu uns, Sie passen gut rein in die SPD.

Ich habe ihm nur geantwortet: Und dann heulen wir abends gemeinsam ins Kissen, weil wir uns wieder mal nicht durchgesetzt haben – so wie es den Linken in der SPD seit Jahrzehnten ergeht.

Die PDS, spöttelt die Zeitschrift „Konkret“, sei links wider Willen: „Man läßt sie nicht in die bundesdeutsche Mitte, obwohl sie da gern mitmachen würde.“

Diese linke Kritik habe ich gern. Ich höre sie auch immer wieder von kleinen marxistischen Gruppen, die alle in den letzten Jahrzehnten sehr wirkungsvoll gewesen sind. Man motzt am Rande der Gesellschaft rum, im absoluten Wissen, nichts zu verändern – aber man bleibt rein und hat ein ganz tolles Gewissen. Man ist ja so revolutionär. Ich will nicht zur Mitte, ich will aber Menschen aus der Mitte für linke Politik gewinnen, wohl wissend, daß immer die Gefahr besteht, sich zu etablieren.

Ist doch schon längst passiert, meint Boris Gröndahl, der Verlagsleiter der ehemaligen SED- Zeitung „Junge Welt“: „Die Kritik der PDS am Kapitalismus geht kaum über das hinaus, was der Sozialkunde-Unterricht jedem besseren Tertianer vermittelt.“

Die sagen, daß wir uns in den Kapitalismus nur einordnen wollen. Mein Ansatz heißt: die Linke muß die Menschen überzeugen, sie muß sich auf sie einlassen, und sie muß sie aufwecken. Eins billige ich der Linken nicht mehr zu: Avantgardismus. Jede Avantgarde, das habe ich in der DDR erlebt, führt in die Diktatur.

Was heißt das für Sie: links?

Ich will diese Gesellschaft in einen demokratischen Sozialismus transformieren. Wobei mir der Begriff nicht wichtig ist – Hauptsache, diese andere Gesellschaft kommt und...

...deshalb unterstützen Sie Rudolf Scharping – das Symbol für die Christdemokratisierung der SPD?

Wir haben nie gesagt, daß wir ihn unterstützen.

Haben Sie wohl, O-Ton PDS- Chef Bisky: „Wir wählen ihn, ob er will oder nicht.“

Wir haben immer gesagt, wir werden die Bildung einer Regierung aus SPD und Bündnis 90/ Grüne nicht verhindern, das kann auch ihre Wahl bedeuten. Aber wir würden mit Scharping in keine Koalition gehen: Da treffen sich ausnahmsweise seine und unsere Vorstellungen. Was würde ich da bewirken? Null! Deswegen sind auch diese Spekulationen vom „Spiegel“, daß ich Wohnungsbauminister werden könnte, absoluter Stuß. Nein, wir würden diese Regierung von links als Opposition begleiten, und das heißt: Wir würden die Regierung nie bedingungslos unterstützen. Wenn sie auf unsere Stimmen angewiesen wäre, hieße das bei jeder Entscheidung: Sucht die SPD den Kompromiß rechts oder links, und das, finde ich, wäre sehr spannend. Für die SPD ist es ja das Wichtigste, nie für ihre Politik einstehen zu müssen. Bisher kriegt sie ihre Absicherung immer von rechts; wir könnten sie nun von links mit Ausreden versorgen.

Peter von Oertzen, wohl der letzte Marxist in der SPD, hat unlängst bedauert, daß einige Grundeinsichten in die Funktionsweisen des Kapitalismus verlorengegangen seien.

Es wäre doch schon etwas erreicht, wenn wir eine SPD-Grüne- Regierung so weit bringen könnten, daß sie sagen müßten, wir können leider nicht anders, weil Daimler-Benz uns das vorschreibt.

Dann, meinen Sie, hätten Sie eine wichtige Wahrheit in dieser Gesellschaft öffentlich gemacht?

Sicher, es wird doch höchste Zeit, daß die Grünen und die SPD von links unter Druck kommen. Joschka Fischer will ja unbedingt in die Regierung – und wenn es mit der SPD nicht reicht, dann halt mit einer Ampelkoalition. Und da wird das Mitregieren beliebig. Denn in einer Koalition mit dem Grafen Lambsdorff weiß man schon vorher, was an Reformen möglich ist: nichts. Oder fast nichts. Seit Jahren rutschen die Grünen nach rechts, abenteuerlich, wie rasant das geht. Da finde ich schon, daß unsere Position zum Asylrecht, gegen den internationalen Einsatz der Bundeswehr, unsere Haltung zum Nord-Süd-Konflikt und zu sozialen und ökologischen Fragen für die Linke wichtig ist.

Aber man grübelt, wer eigentlich Ihre Klientel ist. Mein konservativer Onkel, bisher treuer FDP- Wähler, fragt sich, ob er nicht für Ihre Partei stimmen soll: weil die sich „für die Nutzungsrechte der Kleingärtner und Kleingärtnerinnen einsetzen“ will.

Die SED war eine durch und durch kleinbürgerliche Partei. Und auch beim Erneuerungsversuch behält die Partei kleinbürgerliche Elemente. Die Frage ist spannend: Siegt die sozialistische Idee über das Kleinbürgertum?

Wo die PDS an der Macht beteiligt ist, scheint die Frage schon entschieden: Da benimmt sich die Partei wie alle anderen. Sie hievt SPD-Bürgermeister ins Amt, stimmt für CDU-Landräte. Der PDS-Bürgermeister von Hoyerswerda empfindet gut deutsch: Er meinte unlängst: „Die Stadt ist noch nicht reif für Ausländer.“

Zu mir hat er gesagt, daß er im „Spiegel“ völlig falsch zitiert worden sei, er habe erklärt, er wolle Hoyerswerda zur ausländerfreundlichsten Stadt machen. Ich glaube dem Mann.

Aber Sie haben schon merkwürdige Figuren in Ihrer Mannschaft. Mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe ziehen Sie in den Wahlkampf: Da ist der nationalgesinnte Graf Einsiedel...

Er ist kein Nationalist.

Im „Neuen Deutschland“ hat er sich selber als einen „Deutschnationalen“ bezeichnet.

Graf Einsiedel kann für mich kein Nationalist sein, weil er mit der Waffe gegen die Wehrmacht gekämpft hat. Daran ändern auch einige unpräzise Äußerungen nichts, die er selber korrigiert hat.

...und da ist noch Pfarrer Willibald Jacob, der 20 Jahre in der CDU war und nun herausfinden will, „ob das stimmt, daß die Weltwirtschaft totalitär ist“.

Er ist ein wichtiger Mann für den Entwicklungsausschuß – er versteht was von den Strukturen der Weltwirtschaft. Wir wollen mit dieser bunten Truppe unter anderem dafür sorgen, daß es kein Zurück in der PDS mehr gibt: Sie steht für Erneuerung und...

...da ist auch noch der Schriftsteller Stefan Heym, der Alterspräsident werden will und auch sonst „Ziele“ hat. Aber diese Ziele kann er dann bei einer Wahlveranstaltung nicht benennen, weil er sie „gerade nicht dabei hat“.

Das ist billig. Stefan Heym bringt in den Bundestag einen anderen Zeitgeist. Er ist ein Mann mit einer antifaschistischen Biographie, ein Mann, der sich bewußt zur DDR bekannt hat und der dann anfing, diese DDR zu kritisieren, bis er zum reinen Observierungsobjekt wurde. Er ist ein Mann, der auch durch die Gesellschaft Helmut Kohls nicht korrumpierbar ist. Er ist durch und durch unbestechlich. Und das stört – man hat da einen Spiegel vor dem Gesicht. Nochmals: Diese Leute stehen für eine neue Moral. Wir wollen verkrustete Strukturen im Bundestag durchbrechen und beweisen, daß Parteilose durchaus was zu sagen haben.

Politik verblödet einen, haben Sie gesagt. Politik schnürt einen ein, haben Sie geklagt.

Alles richtig. Aber seit einiger Zeit beklage ich mich nicht mehr so sehr. Seit ich den Parteivorsitz niedergelegt habe, habe ich wieder an Substanz gewonnen. Man darf nur Leute in den Bundestag wählen, die sich da nicht wohl fühlen. Und das ist bei den PDS-Abgeordneten auf jeden Fall so. Wer da gern hingeht, sich einrichtet, entfernt sich ganz rasch von den Menschen und ihrer Wirklichkeit.

Aber auf Teufel komm raus wollen Sie rein in diesen merkwürdigen Bundestag.

Für mich ist es ein Triumph, daß die PDS gute Chancen hat am 16. Oktober. Sie haben es nicht geschafft, den Osten total zu rasieren. Alles haben sie westlichen Strukturen untergeordnet – die Kirchen, die Gewerkschaften, die Parteien. Nur die PDS nicht. Ich möchte, daß dieses widerborstige Phänomen erhalten bleibt. Die PDS paßt nicht in die alte Bundesrepublik. Sie versuchen, sie auszuscheiden. Ich will ihnen das nicht durchgehen lassen. Sie glauben, wenn sie uns überwunden hätten, hätten sie das letzte Stückchen DDR ausradiert – ein Irrglaube. Die PDS ist schon längst ein Stück Bundesrepublik – auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Aber sie müssen sich an uns gewöhnen. Es geht auch um ein Stück europäischer Normalität: daß es eine demokratische Partei links von der SPD gibt.

Sie haben Großes vor. Und das ist gefährlich. Manchmal scheint es, als hätten Sie den Ehrgeiz, der Möllemann der Linken zu werden. Wo sich jemand streitet, da sind Sie, auf allen Fernsehkanälen.

Ich mache nicht alles mit. Ich mime nicht den Unterhaltungsclown. Ich singe nicht, ich höpple nicht wie Möllemann mit Franziska van Almsick auf dem Rücken durchs Studio. Talk-Shows machen mir selten Spaß. Ich habe jedesmal Beklemmungen. Aber für mich ist das eine politische Aufgabe: Es geht darum, andere An- und Einsichten rüberzubringen und den Leuten auch vorzuführen, daß ein Linker nicht ein Messer im Mund hat und kleine Kinder frißt.

Herr Gysi, denken Sie manchmal: Ich hätte mir so viel ersparen können: Haß, Vorwürfe, vielleicht auch Schuldgefühle, auf jeden Fall diese Stigmatisierung – hätte ich damals bloß diese verdammte SED aufgelöst...

Nein, da können Sie noch so oft nachhaken. So denke ich keine Sekunde. Es ging nicht. Und das wäre auch ein billiger Etikettenschwindel. Man kann sich nicht einfach aus der Geschichte stehlen. Außerdem habe ich einen sentimentalen Zug: Es war – trotz aller Widersprüche und sogar Verbrechen – immerhin die Partei, die von Liebknecht und Luxemburg gegründet wurde. Wer bin ich denn, daß ich da das Licht ausmache?