: Abweichendes Verhalten
■ Schon 1988 legte der Chef der DDR-Plankommission, Gerhard Schürer, Honecker ähnlich katastrophale Zahlen vor
„Natürlich gibt es überall Dummköpfe. Aber die Leute, die in der Abteilung XVIII der Stasi arbeiteten, verstanden im Schnitt ihr Handwerk. Was sie zur Krise der DDR-Ökonomie zu sagen hatten, war hart an der Wirklichkeit.“ Der dies heute sagt, muß es wissen. Gerhard Schürer, 25 Jahre lang Chef der Staatlichen Plankommission der DDR und Politbürokandidat, kannte die Ausarbeitungen der Abteilung XVIII ebenso wie ihre Autoren. Viele der Ökonomen in Mielkes Diensten hatten in Schürers Apparat gearbeitet, ehe sie in die (gutbezahlten) Jobs bei der Stasi überwechselten. Deshalb ist es auch nicht überraschend, daß die Einschätzungen in den hier vorgestellten Stasidokumenten mit dem Szenario übereinstimmten, das Schürer schon eineinhalb Jahre zuvor, am 26. April 1988, unter dem Titel „Überlegungen zur weiteren Arbeit am Volkswirtschaftsplan 1988 und darüber hinaus“, Erich Honecker unterbreitet hatte.
Aber Schürers Versuch, an dem DDR-Chefökonomen und Honecker-Vertrauten Günther Mittag vorbei direkt an den Allgewaltigen zu appellieren, ging schief. Honecker gab das Dokument umgehend an Mittag weiter. Der geißelte seinerseits Schürers von der Parteilinie abweichendes Verhalten. Das Politbüro selbst schloß sich im Mai 1988 ohne Diskussion dem Verdikt Mittags an.
Ähnlich wie in den Stasidokumenten von Oktober 1989 wurde von Schürer die drohende Zahlungsunfähigkeit der DDR beschworen. Er prognostizierte die Auslandsverschuldung für Ende 1989 auf 38,9 Milliarden Valutamark. Während die Mittag unterstellte ZK-Abteilung Planung und Finanzen von einem Exportüberschuß von 6,5 Milliarden ausging, hielt Schürer 2,1 Milliarden für das Äußerste, was erwirtschaftet werden könne. Wie den Experten der Stasi war auch dem Obersten Planungschef klar, daß bei der nötigen Umverteilung der Mittel die heilige Kuh Sozialpolitik geschlachtet werden müsse. Kein Wunder, daß die SED-Führung vor dieser Perspektive zurückschreckte – wurde damit doch der nicht erklärte Gesellschaftsvertrag: „Ihr garantiert die Versorgung, wir schweigen“ aufgekündigt.
Kommunist, der er war, wollte Schürer die DDR retten. Dies schien ihm aber nach 1988 nur noch in Form einer Konföderation mit der Bundesrepublik möglich, „da wir sonst niemanden hätten finden können, der uns einfach 20 Milliarden Dollar Schulden abnimmt“. So weit ging die Abteilung XVIII in ihren Vorschlägen nicht. Aber auch die Stasi-Ökonomen kamen unterm Strich zu dem Ergebnis: Bankrott der bisherigen ökonomischen Parteilinie.
Im Licht der fehlgeschlagenen Initiativen Schürers zeigt sich einmal mehr, wie todernst die Stasi ihre Aufgabe nahm, „Schild und Schwert der Partei“ zu sein. Als sich im Sommer 1989 die Krisensymptome zum drohenden Kollaps verdichteten, scherte sie sich nicht darum, daß wesentliche Teile ihrer Analyse mit jener Lagebeurteilung übereinstimmten, die im Mai 1988 von der Parteileitung als revisionistisch zurückgewiesen worden war. Schließlich blieb der neuen Führung der DDR nichts übrig, als den analysierten katastrophalen Ist-Zustand der Ökonomie zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man von der heute im PDS- Milieu gehegten Legende, erst die Treuhand habe den wirtschaftlichen Ruin der DDR verursacht, ausgeht, ein allerdings nur kurzlebiger Lernprozeß. Christian Semler
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