: Die DDR kurz vor dem Crash
■ Bisher unbekannte Stasiakten widerlegen die Legende, erst die Treuhand habe den Ruin der DDR gebracht, mit bestürzenden Zahlen: Das sozialistische Vaterland war am Ende und hätte sich aus eigenen Kraft nicht ...
Bisher unbekannte Stasiakten widerlegen die Legende, erst die Treuhand habe den Ruin der DDR gebracht, mit bestürzenden Zahlen: Das sozialistische Vaterland war am Ende und hätte sich aus eigenen Kraft nicht aufrappeln können
Die DDR kurz vor dem großen Crash
Der 40. Jahrestag der DDR lag knapp drei Wochen zurück, Egon Krenz hatte vor drei Tagen Honeckers Nachfolge angetreten, da zogen die Wirtschaftsexperten der Staatssicherheit schonungslos und streng geheim Bilanz: „Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist ... gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt.“
Die DDR war pleite. Darüber waren sich die Mitarbeiter der Stasi-Hauptabteilung XVIII, die für den Schutz der Volkswirtschaft zuständig war, vollkommen im klaren. Unter dem Titel „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“ – das Papier liegt der taz vor – warnten sie am 27. Oktober 1989 vor den Folgen „der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit“.
Konsequenz „wäre ein Moratorium (Umschuldung), bei der der Internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat“. Der Eingriff des IWF hätte die DDR-Wirtschaft auf den Kopf gestellt. Die Stasileute fürchteten Forderungen nach:
– Untersuchungen zur Kostenentwicklung und Geldstabilität,
– Verzicht des Staates auf den Eingriff in die Wirtschaft,
– Einschränkung und Abbau staatlicher Subventionen,
– Verzicht des Staates, die Importpolitik zu bestimmen,
– Reprivatisierung von Unternehmen.
Mit anderen Worten: das Ende jeder Planwirtschaft. Notwendig sei daher, „alles zu tun, damit dieser Schritt vermieden wird“.
Aber dieser Aufruf hatte nurmehr appellativen Charakter, dem „Mißverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Überbau und der Produktionsbasis“ hatten die Analytiker nichts entgegenzusetzen.
Als wesentliche Ursache des Wirtschaftsdesasters machten Mielkes Experten aus: „Es wurde mehr verbraucht, als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde, zu Lasten der Verschuldung im NSW“ (NSW steht für „nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet“, für den kapitalistischen Westen). Die Schulden der DDR beim Klassenfeind, listete die Stasi auf, hatten sich von zwei Milliarden D-Mark im Jahre 1970 auf schwindelerregende 49 Milliarden D-Mark 1989 erhöht.
Diese Zahlen der Stasi sind neu. Sie stehen im Widerspruch zu den Angaben, die Ende November 1989 und damit ein Monat nach der Stasi-Analyse, von der damals amtierenden Wirtschaftsministerin Christa Luft (SED) in der Volkskammer gemacht wurden. Luft, die heute als Direktkandidatin für die PDS im Berliner Wahlkreis Friedrichshain/Lichtenberg antritt, bezifferte die Nettoverschul
dung der DDR damals auf rund 10 Milliarden Dollar. Neu und bestürzend auch die Zahlen für den Schuldendienst, den die DDR nach 40 Jahren Planwirtschaft bei westlichen Banken und Staaten zu leisten hatte. Mit den Exporterlösen der DDR, bilanzierten die Stasimitarbeiter, würden 1989 „nur etwa 35 Prozent der Valutaausgaben insbesondere für Kredittilgungen, Zinszahlungen und Importe gedeckt. 65 Prozent der Ausgaben müssen durch Bankkredite und andere Quellen finanziert werden“. Das bedeutet, daß „Schulden mit neuen Schulden bezahlt werden“. International gelte als Faustregel, daß die Schuldendienstrate eines Landes 25 Prozent nicht überschreiten dürfe. Die bittere Realität: „Die DDR hat, bezogen auf den NSW-Export, 1989 eine Schuldendienstrate von 150 Prozent.“
Die DDR hätte danach für Zinsen und Kreditzurückzahlungen mehr Mittel aufwenden müssen, als sie über den Export überhaupt einnehmen konnte.
Überliefert ist aus dem Nachlaß des Mielke-Ministeriums auch eine achtseitige Stellungnahme der Stasiwirtschafter zur „Vorlage für das Politbüro des ZK der SED“ – Thema: „Konzeption des Ansatzes für den Fünfjahrplan 1991–1995 und für die staatlichen Aufgaben 1990.“ Das Papier, das ebenso wie die vorgenannte Analyse erst jetzt aus den grob erschlossenen Unterlagen der Hauptabteilung XVIII von den Mitarbeitern der Gauck- Behörde gefischt wurde, geht über die „Analyse der Volkswirtschaft“ weit hinaus. Es stellte die Wirtschaftskonzeption der staatlichen Plankommission generell in Frage.
Am 7. Oktober noch hatte Erich Honecker anläßlich des mit großem Pomp inszenierten Jahrestages der DDR die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ und den Bestand der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft in den Farben der DDR“ pathetisch beschworen. Der Staatssicherheitsdienst wußte es besser: Die DDR-Wirtschaft war so marode, daß die Bevölkerung mit drastischen sozialen Folgen hätte rechnen müssen.
Für eine Fortführung der bisherigen Planwirtschaft hätten bis 1995 millardenschwere Exporterlöse erzielt werden müssen. Damit rechnete die Stasi nicht mehr. Die Durcharbeitung der Bilanzen habe ergeben, heißt es in der Stellungnahme, „daß insbesondere in den Jahren 1990 und 1992 die im Inland zur Verfügung stehenden Rohstoffe und Materialien die materiell-technische Sicherstellung der Leistungsentwicklung nicht gewährleisten“. Auf neuneinhalb Milliarden Mark hätte sich der jährliche Exportüberschuß der DDR bis 1995 steigern müssen. Damit sollten der Schuldenberg abgebaut und die Zahlungsfähigkeit wiederhergestellt werden.
Schon für das Jahr 1989 wurde die „Realisierbarkeit der Zielstellung“ von den Stasiexperten in Zweifel gezogen. Die Planvorgabe sah für dieses Jahr einen Exportüberschuß von rund einer Milliarde D-Mark vor – am Ende des dritten Jahresquartals konstatierten die Stasioffiziere: „zur vollen materiellen Untersetzung fehlen gegenwärtig noch Exportwaren in Höhe von 850 Millionen Valutamark.“
Der Abbau des Schuldenberges und die damit einhergehende Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit hätten sich nur zu Lasten der Bevölkerung in der DDR verwirklichen lassen. Der Exportüberschuß sollte nicht nur durch die drastische Reduzierung der Importe aus dem Westen flankiert werden – die Konzentration auf den Exportmarkt hätte die Versorgungslage in der DDR noch weitaus mehr verschärft, als sie es ohnehin war. „Erhebliche Störungen im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß, insbesondere auch bei der Erfüllung der Exportaufgaben sowie bei der Versorgung der Bevölkerung“ prognostizierten die Stasi-Experten in der an die Politbüromitglieder adressierten Stellungnahme.
Den Fünfjahresplan vor Augen sah die Stasi auch ein „Problem mit hoher Bevölkerungswirksamkeit“ kommen: „Berechnungen der Wohnungsbilanz ergeben, daß die Notwendigkeit besteht, jährlich 70.000 Neubauwohnungen zu erstellen, dagegen sieht die Konzeption durchschnittlich jährlich 44.000 Neubauwohnungen vor. Damit kann der eingeschätzte Verlust an nutzbarem Wohnraum in den Jahren 1991–1995 nicht ausgeglichen werden (1988: Verlust an Altbauwohnungen 54.000, mit steigender Tendenz bis 1995). Ein Ausgleich durch Erhöhung der Investitionen für Modernisierung und Rekonstruktion ist nicht möglich.“
Damit nicht genug: Die „Situation bei der Entwicklung der Warenfonds führt nicht zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung, sondern würde in wichtigen Positionen sogar zurückgehen“.
Die Mitarbeiter der Staatssicherheit hielten die Planvorgaben für „nicht realisierbar“, selbst wenn alle Ressourcen mobilisiert würden. Wenige Wochen vor dem Rücktritt des Zentralkomitees und des gesamten Politbüros hielten sie fest: „Die Fortführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Sicherung des erreichten materiellen Lebensniveaus sowie die Aufrechterhaltung einer stabilen Versorgung der Bevölkerung sind substantiell mit dieser Konzeption nicht gesichert.“ Das sozialistische Vaterland hatte abgewirtschaftet. Wolfgang Gast
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