All that Risikojazz

Neue Partituren aus dem Hause Ulrich und Elisabeth Beck, die sich schon seit langem als Experten in Sachen „Risiko“ erwiesen haben / Der Groove verspricht Freiheit  ■ Von Reinhard Kahl

Der vornehme Architektentag stand 1994 unter dem Motto „Risiko Stadt“. Joschka Fischers neues Buch heißt „Risiko Deutschland“. Und Sozialpädagogen konferieren, worüber wohl? – richtig, über das „Risiko Jugend“. Doch Schaumkronen auf Bugwellen sprechen so wenig gegen den Dampfer, wie das Geplapper der Epigonen einen Meister diskreditieren kann. Mit seinem Buch „Risikogesellschaft“ brachte Ulrich Beck vor acht Jahren neue Töne in die Sozialwissenschaften. Er hatte sich in unsicheres Gelände gewagt und eine etwas inkonsistentere, balancierende und manchmal sogar tänzerische Theorie vorgelegt.

Becks Risiko-Partitur ist vielfach orchestriert. In schrillen Obertönen alarmieren die Großrisiken von Tschernobyl bis zur chemischen Industrie. Aber der Groove verspricht Freiheit. Es kann eben nur das gelingen, was auch mißlingen darf. Die großen Risiken erweisen sich als Rache eines zivilisatorischen Perfektionismus, der die kleinen Risiken scheut und meint, den Mangel abschaffen zu können.

Nun klingt „Risikogesellschaft“ nicht mehr nach Apokalypse, sondern nach Überwindung der Mythen von westlichem Konsumismus und östlichem Kommunismus. Dieser polyphone Risikojazz hat jene harmonischen Choräle zersetzt, die noch vom Irgendwann diesseitiger Paradiese im Nirgendwo kündeten, von diesem Opium für Intellektuelle.

Risiken angehen, um sie abzuarbeiten

„Risikogesellschaft“ ist also die Formel für eine mehrfach gefaltete und höchst ambivalente Botschaft: Risiken wachsen mit dem Versuch, sie abzuschaffen, weil sie so doch nur weggedrängt und konzentriert werden. Allerdings haben wir gute Aussichten, Risiken zu mindern, wenn wir sie eingehen, weil wir sie nur so abarbeiten.

Lange hielten Unternehmercombos mit ihren Schnulzen von Risiko, Wagnis und Gewinn das Thema besetzt. Und nun? Werden wir alle irgendwie Unternehmer? „In der individualisierten Gesellschaft muß der einzelne lernen, sich selbst als Planungsbüro in bezug auf seinen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Partnerschaften usw. zu begreifen. ,Gesellschaft‘ muß unter Bedingungen des herzustellenden Lebenslaufs als eine Variable individuell gehandhabt werden.“ Schreibt Ulrich Beck.

Das Thema – der einzelne als Bastler seines eigenen Lebens – wird nun in seinem neuesten Buch „Riskante Freiheiten“ vielfach variiert. Ulrich Beck hat es zusammen mit seiner Frau Elisabeth Beck-Gernsheim herausgegeben. In ihrer gemeinsamen Einleitung schreiben sie: „Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie, zur Bastelbiographie. Das muß nicht gewollt sein und muß nicht gelingen. Bastelbiographie ist immer zugleich Risikobiographie, ja Drahtseilbiographie, ein Zustand der Dauergefährdung.“ So klingt die Agenda der kollektiven, oft schmerzlichen Autodidaktik aller derzeitigen Generationen: Leben ohne das Netz der Tradition und ohne den doppelten Boden von Religionen, die auf später vertrösten. Wohlgemerkt: Leben. Für das Überleben gibt es Sicherungen. Sozialhilfe oder Verbeamtung, das sind Unterschiede, die Kulturarchäologen einst vielleicht gering schätzen werden.

Das Leben braucht diesen Wechselstrom aus Sicherheit und Unsicherheit. Vermutlich verdankt unsere Gattung diesem Rhythmus das Wichtigste. Man kann es bei Kindern, die laufen lernen, beobachten. Laufen ist immer wieder aufgefangenes Fallen, Schritt für Schritt. Unser aufrechter Gang ist dieses aufgefangene Fallen.

Die Moderne, die Ulrich Beck gern eine halbierte Moderne nennt, ist erst dabei, laufen zu lernen. Wollte man ihr das Fallen verbieten, könnte sie nicht laufen lernen. Aber wie viele Stürze verträgt sie? Die Becks zitieren Gottfried Benn. „Meiner Meinung nach fängt die Geschichte des Menschen heute erst an, seine Gefährdung, seine Tragödie. Bisher standen noch die Altäre der Heiligen und die Flügel der Erzengel hinter ihm, aus Kelchen und Taufbecken rann es über seine Schwächen und Wunden.“

In ihrem Buch haben die Becks neben eigene (zum Teil schon bekannte) Arbeiten die anderer Autoren gestellt. Nicht alle blasen ins gleiche Horn. Vom Orchester profitieren auch die etwas monologischen Einlagen der Großmeister: Luhmann, Habermas, Dahrendorf. Neben ihnen spielt ein Dutzend Meister und Gesellen aus der Zunft der Theoriebastler. Manche können es sich nicht verkneifen, selbst in Anthologiebeiträgen von zwölf Seiten bei Adam und Eva zu beginnen. Man kann ja weiterblättern.

Die Topographie der Kinder entdecken

Nicht überblättern darf man Helga Zeihers „Kindheitsräume“. Nach einsamen Flügen in Theoriesatelliten ist es eine Lust, einer Autorin zu folgen, die ihre Sonden geduldig auf den Alltag richtet. An Veränderungen im Tagesablauf von Kindern zeigt sie die Ambivalenz von Vereinzelung und Freisetzung. Den selbstverständlichen Nahraum, „ich will jetzt runtergehen“, haben die meisten Kinder verloren. Helga Zeiher beschreibt die Topographie der verinselten Lebensräume und die Zeitmuster der Kinder. Zwischen Schollen müssen sie hin und her springen. Das machen sie kunstvoll, vorausgesetzt, sie können springen und sie dürfen es. Kinder, die springen, üben bereits jenen „Möglichkeitssinn“, den Robert Musil für seinen Ulrich im „Mann ohne Eigenschaften“ erfand und den Ulrich Beck immer wieder zitiert.

Das unterscheidet die Becks von anderen Bastlern: sie holen sich ihr Material nicht nur aus der reinen Theoriekiste, sondern auch aus der Welt der Literatur. Elisabeth und Ulrich Beck – vor vier Jahren brachten sie ihr erstes gemeinsames Buch, „Das ganz normale Chaos der Liebe“ zur Welt – lieben natürlich ihre Kopfgeburten, aber sie ziehen unverläßliche Menschen dem Gips aus Statistiken und theoretischen Hohlkörpern vor. „Die Zahlen sind da. Aber man weiß nicht, wo die Menschen sind“, heißt es in einer Fußnote. Schon wegen vieler solcher versteckten Perlen lohnen sich die „Riskanten Freiheiten“.

Ulrich Beck und Elisabeth Beck- Gernsheim: „Riskante Freiheiten“. Edition Suhrkamp (es 1816), 29 DM