Elfe und roter Bulle

Borussia Dortmund – VfB Stuttgart 5:0 / Matthias Sammer als Verwandlungskünstler  ■ Aus Dortmund Katrin Weber-Klüver

Eigentlich hätten sich alle gelbschwarz gesinnten Menschen im Dortmunder Westfalen-Stadion spätestens um 15.45 Uhr weinend in den Armen liegen müssen. Eigentlich hätte es ihnen die Sprache verschlagen sollen, was sie in den 14 Minuten zuvor miterlebt hatten. Aber: verschämte Tränen der Rührung sind nicht überliefert. Ist etwa das Publikum in dieser Arena von den Erfolgen der letzten Jahre so verwöhnt, daß es drei brillante Tore in zehn Minuten goutieren darf, als wären sie nichts weiter als der übliche Aperitif? Macht Erfolg so geschmäcklerisch?

Wahrscheinlicher ist wohl, daß derart geballte Perfektion wie die in jenen Minuten selbst die Sinne siegesgewohnter Seher überfordert. Also tut man, als wäre nichts weiter gewesen. Na ja – ein Tor, noch eins, und, huch, noch eines.

Doch nüchtern betrachtet, hatte es natürlich etwas Ungehöriges, wie die Dortmunder im Spitzenspiel des Tages die Stuttgarter in dieser Viertelstunde vorführten. Nachgerade obszön. Wirklich schämen mußten sich allerdings die Schwaben, die zur Party mit völlig leeren Händen gekommen waren. Es sei denn, sie verstanden ihre staunende Zuschauerrolle als Gastgeschenk.

Der Dortmunder Geniestreich hatte zwei Namen. Der erste trug sich an diesem Nachmittag zum fünften und sechsten Mal in die Torschützenliste ein: Stéphane Chapuisat. Der zweite erfuhr seiner Wertschätzung verbal von der Südtribüne, wo derzeit kein BVB- Spieler so geliebt wird wie er: Matthias Sammer. Mit ziemlicher Sicherheit haben sie recht, wenn sie zur Melodie von „Bruder Jacob“ singen: „Berti Vogts, siehst du nicht, siehst du nicht, Sammer ist der beste, Sammer ist der beste Li- be-ro.“ Sammer ist eine Art Powerdrink, der wahre Red Bull. Seine Dynamik läßt zuweilen den Verdacht aufkommen, daß er verrückt ist. Ein Wahnsinniger, der Fußball spielt, als sei er auf Speed und habe die Vision, ein Springteufel zu sein. So hüpft er aus dem Stand senkrecht in die Höhe, vorzugsweise wenn er sich sehr ärgert, vorzugsweise über Schiedsrichter. In anderen Momenten des Rausches hat er die süße Idee, eine Elfe zu sein, deren zarte Ferse bunte Bälle stupsen muß. Das ist schön anzusehen, weil der Ball in einem hohen Bogen magisch zu einem Mitspieler wieder herabsegelt.

Manchmal macht Sammer auch ganz vernünftige Dinge, paßt etwa gradlinig, nahezu prosaisch. Das erste Mal, als er das am Sonnabend tat, fand der Ball Andy Möller, welcher wiederum nur noch kurz geradeaus zu gucken brauchte, um dann einzuschießen. Später erzielte Möller noch das 4:0, nach einer Ecke von Stéphane Chapuisat.

Der Schweizer sieht immer so aus, als habe er im Moment nach einem Coup gar nicht mehr richtig präsent, wie begnadet er spielen kann. Ein ganz und gar nüchtern veranlagter Mensch, der sich im echten Leben gibt, als leite ihn das etwas altfränkische Motto: Bescheidenheit ist eine Zier.

Auf dem Platz erinnert er sich an den zweiten Teil dieser Sentenz: ... doch weiter kommt man ohne ihr. Solch ein Chapuisatscher Kick muß für den Gegenspieler schrecklich sein. Gleich im Doppelpack erwischte es den armen Slobodan Dubajic. Beim 2:0 ließ Chapuisat den Klotz auf der rechten Seite stehen, besser gesagt, verzweifelt wie ein Kleinkind gestikulierend sitzen. Drei Minuten später wählte Chapuisat die linke Seite, um Dubajic wie eine Litfaßsäule zu umkurven, unverschämt lässig.

Fehlt noch was zur Vervollständigung der Statistik? Ach ja: Der wieder einmal erbarmungswürdig glücklose Karlheinz Riedle rettete den Rest seines Rufes gerade noch, als er in der 78. Minute das 5:0 schoß. Es war allerhöchste Zeit, denn im selben Moment streifte Ibrahim Tanko den Trainingsanzug ab, um sein Bundesligadebüt zu geben. Tanko ist Dortmunds 17jähriges Stürmertalent aus Ghana, oder wie die Fachfrau sagt: Den Namen wird man sich merken müssen.

Ein anderes Sternchen kennt man schon: Fredi Bobic, der mit der bisher fünfteiligen Serie „Ein Spiel – ein Bobic – ein Tor“. Der Bundestrainer lobte, sein Star in spe bewege sich gut. Zumindest bewegte er sich in der Schlußphase, als die Dortmunder schon erschlafften, viel. Doch ob des drohenden Serien-Endes aufgeregt, verlor der spargelige Jüngling im Strafraum ab und an die Übersicht und auch die Contenance. Was blieb: kein Tor in Dortmund.