: Strandkönige auf einem Thron aus Lehm
■ Straßenkinder, Hilfsorganisationen und Theater in Salvador de Bahia – Hintergründe des brasilianischen Jugendstücks „O rei do trono do barro“ (oder auch: „Straßen-Hamlet“), das jetzt in Deutschland auf Tournee ist
Sein oder Nichtsein ist für sie keine philosophische Frage. Brasiliens Straßenkinder balancieren täglich zwischen Leben und Tod. Auf der Bühne allerdings verwandelt sich die Existenz zwischen brutaler Gewalt und unbändigem Lebenswillen auf dem Asphalt in ein mitreißendes Drama. Shakespeares „Hamlet“ – ein Straßenkind? In der brasilianischen Stadt Salvador da Bahia geriet die zeitgenössische Variante des englischen Klassikers mit dem Titel „Der König auf dem Thron aus Lehm“ zu einem Publikumserfolg.
„Eigentlich wollten wir mit den Jugendlichen nur Improvisationen über das Thema Gewalt einstudieren“, erinnert sich Dramaturgin Vera Achatkin. „Doch wir wurden von unser Phantasie überwältigt und konnten der Herausforderung Hamlet einfach nicht widerstehen.“ Die Brasilianerin, die mit dem Regisseur Volker Quandt in Tübingen das Harlekin Theater leitet, ersetzte den Kampf um die Macht im Königreich Dänemark durch die Ellenbogengesellschaft, in der um ein Stück Pappkarton zum Schlafen gestritten wird, und kontrastierte den Ehrgeiz nach Ruhm und Reichtum am Königshof mit der Sehnsucht der Geächteten, das 18. Lebensjahr lebend zu vollenden.
Bis zur Verwirklichung von „Hamlet“ vergingen drei Jahre. Alles begann mit einem Wettbewerb, den die brasilianische Baufirma Odebrecht aus Bahia zum Thema „Schwangerschaft in der Pubertät“ ausgeschrieben hatte. Die Kinder der Odebrecht-Mitarbeiter sowie ihre Freunde baten die Psychologin und Dramaturgin Maria Eugenia Milet zur Hilfe, um ein Theaterstück zu dem Thema zu inszenieren. Aus dem Projekt entstand die damals zehnköpfige Theatergruppe „Nossa Cara“ (auf deutsch: unser Gesicht). Maria Eugenia Milet, die schon bei dem Straßenkinderprojekt „Axé“ (was auf deutsch etwa: voran, nur Mut heißt) in Salvador Erfahrungen mit pädagogischem Theater gesammelt hatte, verhalf den Jugendlichen zu dem Publikumsrenner „Und was hältst du davon?“
Der Kontakt der jungen Laienschauspieler mit Deutschland bahnte sich im vergangenen Jahr an, als der Direktor des Goethe-Instituts, Roland Schaffner, in Salvador ein Treffen zwischen Maria Eugenia Milet und dem deutsch- brasilianischen Ehepaar Volker Quandt und Vera Achatkin arrangierte. „Wir wollten etwas zum Thema Gewalt machen, und zwar von Jugendlichen für Jugendliche“, erklärt Vera Achatkin. Die deutsch-brasilianische Theaterkooperation begann in einer bescheidenen Theaterwerkstatt in einem Armenviertel von Salvador.
Während des dreimonatigen Experiments von Januar bis April 1993 vergrößerte sich die Gruppe Nossa Cara um vier neue Mitglieder. Zu ihnen gehörte auch der Hamlet-Darsteller Fabio Tobias. Von dem ehemaligen Straßenjungen stammt der Titel der brasilianischen Hamlet-Version: „Der König auf dem Thron aus Lehm“. Lehm ist für viele Straßenkinder ein Symbol für ihre wackelige Existenz: Er wird zwar schnell hart, doch bei der kleinsten Berührung beginnt er an zu bröckeln.
Nur zwei Mitglieder der Gruppe Nossa Cara gehörten früher dem Universum der rund 850 Kinder in Salvador an, die auf dem Bürgersteig oder am Strand schlafen. Mittlerweile haben es beide jedoch geschafft, sich mit Hilfe des Theaters den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Die Betreuung der „Strandkönige“ Salvadors, wie der brasilianische Schriftsteller Jorge Amado die Ärmsten der Armen zärtlich nannte, hat sich in den vergangenen vier Jahren verbessert. Dies liegt nicht nur an der erfolgreichen Arbeit des Straßenkinderprojekts Axé, das seit seiner Gründung vor vier Jahren insgesamt bereits 7.000 Kinder in Salvador de Bahia von der Straße geholt hat.
Auch von unten gibt es eine entsprechende Initiative: Ehemalige Autowäscher und Parkwächter, die mittlerweile in der afro-brasilianischen Musikgruppe Olodum Karriere gemacht haben, kümmern sich auf diese Weise um ihren Nachwuchs. Auch für den „Straßen-Hamlet“ haben Olodum die Musik gemacht. Die „kreative Schule Olodum“ übt eine ungeheure Anziehungskraft auf die Jugendlichen Salvadors aus. „Wir bekommen bis zu drei Schulklassen am Tag zu Besuch“, erklärt Olodum-Direktor Esmeraldo Santos Arquimimo, genannt Billy. Es sei der Traum eines jeden Jungen, zu den Trommlern der Band zu gehören, die jeden Sonntag in der Altstadt von Salvador Tausende von Zuschauern anlockt. Die soziale Arbeit der afro-brasilianischen Künstler wird in erster Linie durch die Einnahmen aus internationalen Tourneen sowie Plattenaufnahmen finanziert.
Der Erfolg Olodums seit ihrem Karnevalshit „Farao“ von 1987 hat das Klima in der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia, wo 89 Prozent aller Einwohner schwarz sind, verändert. „Wir wollten uns ein für alle Mal von der Schande befreien, schwarz zu sein“, meint Billy. Das Rezept, sich auf die afrikanischen Wurzeln zu besinnen, ging auf: Die rhythmische Mischung aus Samba und Reggae machte Olodum nicht nur innerhalb Brasiliens, sondern weltweit bekannt. Auch beim Projekt Axé, so der Leiter Césare de Florio la Rocca, ist der Stolz auf die schwarze Hautfarbe ein Markenzeichen.
Erfolgreiche Hilfsprojekte wie in Salvador konnten allerdings an der allgemeinen Ablehnung, die die brasilianische Gesellschaft den jugendlichen Außenseitern entgegenbringt, bis jetzt nichts ändern. Laut einer bereits im Jahr 1991 eingesetzten parlamentarischen Untersuchungskommission zum Thema Kindermorde kommen in Brasilien täglich vier Minderjährige gewaltsam ums Leben. Die sogenannten Todesschwadronen, die sich nach Kenntnis brasilianischer Behörden und Hilfsorganisationen aus Polizisten sowie privaten Sicherheitskräften zusammensetzen, können mit der stillschweigenden Zustimmung eines großen Teils der brasilianischen Bevölkerung rechnen. Denn die Straßenbevölkerung wird für die zahlreichen Raubüberfälle und für die allgemeine Gewalttätigkeit in Brasiliens Großstädten verantwortlich gemacht. Astrid Prange
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