Im Supermarkt-Format

■ Die Pariser Zeitung „Libération“ wechselt heute das Outfit

Größer, bunter, dicker – so lautet das Konzept für die überarbeitete Libération, die heute in Frankreich erstmals erscheint. Gestern abend montierten Alpinisten die neue Seite eins auf einer 30 Meter hohen Fassade vor dem Hintergrund des Eiffelturms. Mit dem Spektakel will die einstige Sponti- Zeitung in die Riege der internationalen „Qualitäts-Zeitung“ aufsteigen. Sie will Auflage und Anzeigenvolumen erhöhen und sich – wieder einmal – dem Zeitgeist anpassen. Als Vorbild dient ihr dabei die New York Times. „Man kann heute keine Zeitung mehr machen wie gestern“, erklärt Chefredakteur Serge July. Alles habe sich geändert: Die elektronischen Medien Radio und Fernsehen sind seit den 80er Jahren zu einem großen Teil privatisiert, die verbliebenen LeserInnen zappen von einer Zeitung zur anderen, und die breite Öffentlichkeit interessiere sich heute nicht mehr nur für Politik, sondern vor allem für die Themen des Alltags. Getreu dieser Analyse will Libération von heute an sämtliche Themen abdecken – „von Ruanda bis zur Matratze“, so Chefredakteur July.

Auf knapp 100 Seiten täglich – doppelt so viele wie bisher – will Libération stärker rubrizieren, mehr Service anbieten und jeden Tag ein Schwerpunktthema veröffentlichen. Das Blatt wird im Buntdruck hergestellt, und seine Seiten sind 10 Zentimeter höher geworden. 45 zusätzlich eingestellte JournalistInnen (insgesamt zählt Libération damit 304 JournalistInnen) sollen es möglich machen.

Finanziert wird die Umstellung mit einer Kapitalaufstockung von 200 Millionen Francs (ca. 60 Millionen DM). 75 Millionen Francs haben die Aktionäre, von denen kein einzelner mehr als 20 Prozent halten darf, bereits jetzt zur Verfügung gestellt, auf die restlichen 125 Millionen Francs hofft Libération bis zum Jahresende.

Das Blatt, das sich erst in den 80er Jahren in mehreren Reformen ein modernes Outfit verpaßt hatte, steckt in einer tiefen Krise. Seit Jahren stagniert die Auflage bei 170.000 Exemplaren, 1993 sanken die Werbeeinnahmen um 8,1 Prozent. Mit dieser Entwicklung steht die nach Le Monde und Figaro drittgrößte nationale Zeitung freilich nicht allein: Allen Printmedien in Frankreich – egal ob regional oder national, rechts oder links, täglich oder wöchentlich – geht es schlecht. Eine nationale Zeitung, Le Quotidien de Paris, mußte im Juli dieses Jahres bereits das Erscheinen einstellen. Die anderen – allen voran die fast 50jährige Le Monde – planen ihrerseits große Blattreformen. Traditionell lesen die Franzosen weniger Tageszeitungen als ihre europäischen NachbarInnen. Nur knapp eine Million (der insgesamt 54 Millionen Franzosen) halten ein Abonnement. Die großen nationalen Zeitungen aus Paris kommen zusammen auf nicht einmal eine Million täglicher Exemplare. Die Regionalzeitungen haben zwar eine vielfach größere Auflage, doch auch bei ihnen herrscht Krisenstimmung. Libération-Chefredakteur July will mit seiner Blattreform nun ein Stück näher an die Wochenmagazine heranrücken, die – wenngleich ihrerseits krisengeschüttelt – nach wie vor der Franzosen liebste Leseobjekte sind. Daß seine dicke Zeitung künftig die LeserInnen eher einschüchtern denn anlocken könnte, fürchtet July nicht. Der Supermarkt in der täglichen Zeitung sei doch genau das, was die LeserInnen wollen.

Wie anders war der Zeitgeist im Mai 1973, als Libération unter der Direktion von Jean-Paul Sartre erstmals erschien. Damals bestand die Welt aus Kämpfen: Auf den anfangs nur acht Seiten kämpften die Arbeiter der selbstverwalteten Uhrenfabrik „Lip“ in Besançon, streikte die Belegschaft von „Renault“ und demonstrierte das Volk von Chile. Genau wie sie alle, wollte das JournalistInnen-Kollektiv von Libération die Welt verändern. Kritisch nahm man das Kapital und die Mächtigen ins Visier, verzichtete auf Werbung – und beschränkte sich aufs Wesentliche. Dorothea Hahn