piwik no script img

■ In Indien ist die Pest ausgebrochenBlick durch die apokalyptische Brille

Pest und Cholera sind Seuchen, die düstere Assoziationen erwecken: an Massensterben vergangener Jahrhunderte, an Jüngstes Gericht und Apokalypse. Als unter den Ruandern im zairischen Goma die Cholera ausbrach, praktischerweise gleich unterhalb eines aktiven Vulkans, waren denn auch solche Metaphern schnell zur Hand und führten zu einer sommerlichen Medienfaszination. Das gleiche droht sich jetzt in bezug auf den indischen Bundesstaat Gujarat einzustellen, wo eine fünf Tage alte Pestepidemie mehrere hundert Todesopfer gefordert hat.

Sicher hat die Faszination zum Teil mit der Massenpanik zu tun, die im indischen Surat wie im zairischen Goma zu beobachten ist: Hunderttausende fliehen, Verzweiflung drängt von selber vor Fernsehkameras. Der Grundbegriff beider Situationen: Hilflosigkeit. Dem Zuschauer wird signalisiert: Auf anderen Erdteilen herrschen Zustände wie bei uns im Mittelalter.

Natürlich haben Goma und Surat mit dem Mittelalter nichts zu tun, und die Seuchen darin auch nicht. Daß sich Hunderttausende von Menschen auf einem engen Raum zusammenfinden, ist selbst ein Phänomen der Moderne, das kaum je zufällig passiert, sondern benennbare Gründe hat. Goma ist eine durch das im Krieg geschlagene frühere ruandische Regime bewußt herbeigeführte Notlage, Ergebnis einer von einem hochentwickelten Staatsapparat per Rundfunk präzise organisierten Massenflucht. Surat ist eine Stadt von Pendlern, in der Arbeiter in Fabriken der nahen Millionenstädte Ahmedabad und Bombay leben sowie Neuankömmlinge aus dem Hinterland der Provinz Maharashtra, wo die mangelhafte Bewältigung eines Erdbebens letztes Jahr die Bedingungen für die Entstehung der Seuche schuf. Aber lieber betrachten wir die Pest durch die apokalyptische Brille, als eine weitere Facette in dem angeblich unaufhaltsam wuchernden, unsere Inseln der Zivilisation gefährdenden und nur noch durch Quarantänemaßnahmen wie Grenzabschottung und Entsendung von UNO-Sanitätern einzudämmenden Elend namens Dritte Welt.

Cholera und Pest in Afrika und Indien sind kein Atavismus. Sie sind Nebenprodukt einer gesteigerten Mobilität und Vernetzung, in der keine Gesellschaft mehr isoliert lebt. Wir erleben eine weltweite Modernisierung, die nicht zu langsam verläuft, sondern eher durch ihre Schnelligkeit und ihre vielfältigen Konsequenzen die Geister unserer alten Welt zu überfordern scheint. Die panischen Szenen auf den Fernsehschirmen werben für ein Weltbild, das die Dritte Welt als unfähigen Sozialfall wegerklären will; doch hinter ihnen, flüchtigen Kameras weniger zugänglich, versteckt sich der Beweis des Gegenteils. Dominic Johnson

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen