Wenn er Täter ist, ist er auch Opfer

Heute beginnt in Los Angeles der Prozeß gegen den schwarzen Footballer O. J. Simpson – mit Millionen Fernsehzuschauern / Ein Mordfall eint die Nation und entzweit die Menschen  ■ Von Andrea Böhm

Washington (taz) – Es gibt einige wenige Orte in den USA, an denen Schwarze und Weiße freiwillig zusammenkommen. Sportstadien zum Beispiel, Autoraststätten oder Denkmäler für gefallene Helden. Die Tudor-Villa in Brentwood Park, einem Prominentenviertel in Los Angeles, ist ein solches Denkmal. Hier hat bis zum 17. Juni dieses Jahres O.J. Simpson gewohnt, einer der ganz großen Stars des American Football und der erste schwarze Profispieler, dem es Hollywoods Filmstudios und New Yorks Werbekonzerne gestatteten, seine Sportkarriere als Werbeträger und Schauspieler fortzusetzen. Seit jenem 17. Juni, als der Held unter dem dringenden Verdacht verhaftet wurde, seine Exfrau Nicole Brown Simpson und deren Bekannten Ronald Goldman erstochen zu haben, pilgern Amerikaner jeglicher Abstammung, sozialer Herkunft oder Hautfarbe den Sunset Boulevard entlang zu seinem Haus. Sie kommen miteinander ins Gespräch. Sie reden über den Rassismus und die Polizei von Los Angeles, über Eifersucht und OJ's sensationelle Saison 1973 mit den „Buffalo Bills“, über die Skrupellosigkeit der Medien und OJ's makelloses Auftreten in der Öffentlichkeit – und natürlich über Schuld und Unschuld. „Er kann's gar nicht gewesen sein“, sagt ein weißer Mittvierziger im Gespräch mit zwei schwarzen Frauen. „Schwarze benutzen kein Messer. Die schießen.“ Zustimmendes Nicken; Vorurteile und Zerrbilder als Unschuldsbeweis für einen Helden.

O. J. Simpson wurde einst nicht nur für seine genialen touchdowns geliebt, sondern auch für die Illusion, die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen überwunden zu haben. Jetzt ist er wieder „Schwarzer“ – und es soll nach dem Willen der Pilger zu seinem Besten sein. In den letzten Monaten verging kaum ein Tag, an dem O. J. Simpson nicht Thema in den Medien war. Nach dem ersten dramaturgischen Höhepunkt, der Live-Übertragung einer grotesken Verfolgungsjagd über die Highways von Los Angeles (Zuschauer: 95 Millionen) und unzähligen Titelstorys, Essays, und Kommentaren in Zeitungen und Wochenschriften wie Time, Newsweek, The New Yorker, New York Review of Books oder New Republic schwappte der Fall im August wieder ins Gefilde der Boulevardpresse, Radio-Talk-Shows und TV-Klatschmagazine zurück.

In der letzten Woche stieg auch die Aufmerksamkeit der seriösen Presse wieder: Exklusiv-Interviews mit OJ's Mutter und Nicoles Eltern konkurrierten mit Live-Bildern über die Landung der amerikanischen Truppen auf Haiti. Wenn heute in Los Angeles schließlich der Prozeß gegen Orenthal James Simpson beginnt, dann zeichnen sich wieder Rekordeinschaltquoten ab. Über 100 Millionen Amerikaner, so schätzt man, werden anläßlich der Höhepunkte – Simpsons Aussage, Schlußplädoyers, Urteilsverkündung – vor dem Fernseher sitzen.

Wie ein Politiker vor der TV-Debatte

Die Hauptdarsteller haben sich auf den Prozeß vorbereitet wie Präsidentschaftskandidaten auf die entscheidende TV-Debatte. Staatsanwältin Marcia Clark, dem Volk durch die Übertragung der vorgerichtlichen Anhörung bereits bestens bekannt, probte ihre Verhandlungsstrategie in einem simulierten Prozeß. Die Testpersonen auf der Geschworenenbank sollen Gerüchten zufolge negativ auf die Anklägerin reagiert haben. Die Phalanx der Simpson-Verteidiger, geführt von den beiden High-Society-Staranwälten Robert Shapiro und Johnny Cochran, hat ihre taktischen Optionen ebenfalls nach den Gesetzen der Werbebranche an verschiedenen Zielgruppen „unechter“ Geschworener getestet. Kollegen haben – erwünscht oder unerwünscht – letzte Ratschläge erteilt. Die Staatsanwältin sollte etwas mehr Wärme ausstrahlen, hieß es an die Adresse Marcia Clarks. Shapiro wurde nahegelegt, während der Verhandlung auf Siegelringe, Krawattennadeln und aufdringliche Anzugfarben zu verzichten. Nun haben die Mimik der Staatsanwältin und die Accessoires des Verteidigers zweifellos wenig mit der Frage von Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu tun. Doch Imagepflege ist in diesem Prozeß mindestens so wichtig wie die (Re-)Konstruktion von Wahrheit.

Das liegt zuerst einmal an der grundsätzlichen Eigenheit des amerikanischen Strafprozeßwesens: Hier fällen nicht Richter das Urteil, sondern zwölf juristische Laien, die Geschworenen. Die können aus Beweismitteln recht eigenwillige Schlußfolgerungen ziehen, wie zuletzt jene Jury demonstrierte, die im April 1992 vier weiße Polizisten vom Vorwurf exzessiver Gewalt gegen den schwarzen Autofahrer Rodney King freisprach – obwohl die Prügelorgie auf Video aufgezeichnet worden war. Marcia Clark kann nun im Fall Simpson eine ganze Kette belastender Beweise und Indizien gegen den Angeklagten präsentieren. Doch entscheidend ist, ob die Jury-Mitglieder glauben (wollen), was Clark beweisen zu können meint: daß O. J. Simpson in der Nacht des 12. Juni Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman erstochen hat.

Schwierige Suche nach Geschworenen

Nun dürfte unbestritten sein, daß es mit Ausnahme vielleicht einiger Nationalparkwärter in Alaska im ganzen Land keine Jurykandidaten mehr gibt, die nicht durch die Sensationsberichte in den Medien voreingenommen sind. Wenn heute die Auswahl der Geschworenen beginnt, wird Marcia Clark alle Kandidaten auszuschließen versuchen, die Sympathien für den Angeklagten zeigen. Angesichts der Popularität Simpsons kann das potentiell auf jeden zutreffen – vor allem aber auf schwarze Männer, die Simpson für ein weiteres Opfer einer rassistischen Polizei und Justiz halten. Ebendiese Geschworenen möchten ihrerseits Shapiro und Cochran im Gerichtssaal sehen. Ebendeswegen haben beide in den letzten Wochen gezielt die Behauptung in die Medien und in den Gerichtssaal lanciert, ihr Mandant sei das Opfer eines rassistischen weißen Kriminalbeamten des Los Angeles Police Departments. Der habe das zentrale Beweisstück, einen blutigen Handschuh, in Simpsons Haus plaziert. Ebendeswegen hebt Cochran immer wieder hervor, daß der Simpson-Prozeß ein „Pulverfaß“ für Los Angeles werden könnte; daß die schwarze Community nach der öffentlichen Erniedrigung von Michael Jackson durch den Vorwurf sexueller Belästigung und der Aburteilung von Boxweltmeister Mike Tyson wegen Vergewaltigung die Demontage eines weiteren afroamerikanischen Idols nicht dulden würde.

„Die Berichterstattung in den Medien hat zweifellos Einfluß auf den Ausgang eines öffentlichkeitsträchtigen Prozesses“, schreibt Shapiro in einem Fachaufsatz mit dem Titel „Geheimnisse eines Prominenten-Anwalts“. „Gute Beziehungen zur Presse sind ebenso wichtig wie gute Kontakte zu Richtern und Staatsanwälten.“ So geheim sind soche Tips nun auch wieder nicht. Die Gegenseite betreibt das gleiche Spiel: Selten haben die Ermittlungsbehörden Journalisten mit so viel Details belastenden Beweismaterials gefüttert wie im Fall Simpson. Inzwischen wagen die ersten Juristen die Frage, ob das amerikanische Geschworenensystem solch ausgefeilten Manipulationstaktiken noch gewachsen ist. Lance Ito, der Vorsitzende Richter im Simpson-Prozeß, hat wutschnaubend angedroht, die Kameras aus dem Gerichtssaal zu verbannen, falls TV-Stationen weiterhin „fundamental falsche Berichte“ über die Beweislage gegen Simpson ausstrahlen sollten. Das Paradoxe ist, daß Ito selbst die Kameras im Gerichtssaal nutzte, um seine Medienkritik an die Öffentlichkeit zu bringen.

Fernsehen als Bindemittel für die Nation

Ein Drehverbot würde vermutlich umgehend in nächster Instanz wiederaufgehoben – unter dem Beifall der gesamten Fernsehnation. Denn Medienereignisse wie der Simpson-Prozeß sind nicht nur ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse und TV-Klatschmagazine. In einem Land, in dem die meisten Menschen Politik im Sinne von Regierungshandeln nur geringe Bedeutung beimessen, werden gesellschaftliche Ereignisse enorm schnell politisiert. Das Fernsehen ist das Bindemittel, das von Seattle bis Miami, von Los Angeles bis New York einen landesweiten Diskurs stiftet. Kaum waren zum Beispiel die ersten Berichte über Simpsons Gewalttätigkeit gegen seine Frau veröffentlicht, da setzte in den USA eine neue Debatte über Gewalt in der Ehe ein – mit konkreten politischen Konsequenzen: In mehreren Bundesstaaten wurden Gesetze zum besseren Schutz mißhandelter Frauen verabschiedet.

Eine andere Debatte wäre unweigerlich über die Todesstrafe ausgebrochen, hätte die Staatsanwaltschaft von Los Angeles jetzt nicht kurz vor Prozeßbeginn verkündet, daß sie im Fall Simpson „nur“ auf eine Gefängnisstrafe, möglicherweise auf „lebenslänglich“, plädieren wird. Das paßt eigentlich nicht ins gegenwärtige Klima von Law and order, in dem sich Staatsanwälte ebenso wie Politiker aller Parteien gerne damit brüsten, möglichst viele Delinquenten in die Todeszelle geschickt zu haben. Das paßt auch nicht ins Schema der Chronisten und Statistiker. Denn nichts macht ein Todesurteil wahrscheinlicher als die Konstellation im Fall Simpson: Der Täter ist ein schwarzer Mann, die Opfer sind zwei Weiße, darunter eine Frau. Oder, wie es etwas drastischer ein schwarzer Jugendlicher in Los Angeles gegenüber weißen Journalisten formulierte: „OJ ist doch wieder Nigger geworden. Er ist der schwarze Mann, der deine blonde Tochter töten wird.“

Doch offensichtlich ist OJ nicht so „schwarz“, so bedrohlich, daß man die Vorstellung ertragen hätte, ihn unter den Todestraktinsassen in San Quentin zu wissen. Der Staatsanwaltschaft in Los Angeles war klar, daß keine Geschworenenbank im ganzen Land zu einem Schuldspruch bereit gewesen wäre, wenn dieser ein Todesurteil nach sich gezogen hätte. Jetzt droht Orenthal James Simpson im schlimmsten Fall eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Er selbst beteuert nach wie vor seine Unschuld, signiert in seiner Zelle täglich ein paar hundert Autogrammkarten und empfängt bis zu zweitausend Briefe am Tag. Kinder schicken ihm ihr Taschengeld, damit er seine Verteidiger bezahlen kann; vor allem Frauen versichern ihm, daß sie an seine Unschuld glauben. Freunden erzählt er, daß er Weihnachten wieder am kalifornischen Strand verbringen wird. Sein Anwalt Robert Shapiro strahlt ebenfalls Zuversicht aus. Der Gerichtssaal, sagt er, sei nicht die Bühne für die Opfer, „sondern für die Angeklagten“.