Grüne Männchen im Meer der Rechtlosigkeit

Beobachtungen in Haitis Hauptstadt eine Woche nach Beginn der US-Militäraktion: Wer seine Freude allzuoft zeigt, riskiert sein Leben / Eine andere Welt hinter dem Stacheldrahtzaun  ■ Aus Port-au-Prince Hans-Christoph Buch

Bekanntlich herrscht trügerische Stille im Auge des Hurrikans. Gespannte Ruhe liegt über Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, aber niemand weiß: Ist es die Ruhe vor oder nach dem Sturm? Die US- amerikanische „Operation uplift democracy“ konfrontiert die modernste Kriegsmaschinerie der Welt mit einem der rückständigsten Länder der Erde; die Bäuerin, die auf ihrem Esel an einem mit Haifischzähnen bemalten C-130- Transportflugzeug vorbeireitet, ist mittlerweile ein gewöhnlicher Anblick. Von morgens bis abends pilgert eine endlose Prozession von Neugierigen zwischen Hafen und Flughafen hin und her, um das Ausladen der gepanzerten Fahrzeuge, Lastwagen und Jeeps zu bestaunen, die in nicht abreißendem Strom zum Flughafen rollen, wo die US-Army ihr provisorisches Hauptquartier eingerichtet hat. Rund um die Uhr donnern Hubschrauber im Tiefflug über die Stadt, durch deren von Schaulustigen verstopfte Straßen Konvois der amerikanischen Militärpolizei patrouillieren, um die Bevölkerung vor Übergriffen der haitianischen Armee zu schützen.

Die Bevölkerung betrachtet die amerikanischen Soldaten wie Hauptdarsteller in einem Science- fiction-Film, so als sei Raumschiff Enterprise auf Haiti gelandet, aus dem in der Rolle kleiner grüner Männchen Soldaten in Kampfanzügen quellen, deren einziger ernstzunehmender Gegner die Tropensonne ist. Barfüßige Kinder und Erwachsene in zerschlissenen Hosen und T-Shirts drücken sich die Nasen am Maschendrahtzaun platt und betrachten mit großen Augen die hinter Stacheldrahtrollen und Sandsäcken verschanzten Wesen aus einer anderen Welt, unter deren Stahlhelmen und kugelsicheren Westen Schweiß trieft. Nur wenige Passanten trauen sich, den Invasoren zuzuwinken oder zuzulächeln – aus Angst vor der haitianischen, nicht etwa der amerikanischen Armee: Wer seine Freude über die Landung der Marines allzuoft zeigt und sich damit als Aristide-Anhänger zu erkennen gibt, riskiert sein Leben, wie jener junge Mann, der kürzlich vor den Kameras des Fernsehens und unter den Augen der GIs von haitianischen Polizisten zu Tode geprügelt wurde.

Obwohl der Drahtzieher des Terrors, Polizeichef Michel François, ebenso wie sein Vorgesetzter Raoul Cédras dem Kommandeur der US-Truppen, General Sheldon, und dem Chef der Militärpolizei, Oberst Sullivan, feierlich versprachen, die haitianische Armee werde sich in Zukunft zivilisiert benehmen, wurden am Samstag erneut Pro-Aristide-Demonstranten in der Innenstadt zusammengeknüppelt, festgenommen und mißhandelt. Menschen- und Bürgerrechte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit stehen in Haiti nur auf dem Papier, denn die US-Armee hält nur wenige strategische Schlüsselstellungen besetzt, Inseln in einem Meer der Rechtlosigkeit, das nach wie vor von der Diktatur beherrscht wird.

Die meisten Haitianer haben Angst, denn sie sind noch immer schutzlos den Spitzeln und Schergen ihrer Armee ausgeliefert. Die zuweilen zu beobachtende Tendenz der Besatzungsmacht, Opfer und Täter auf die gleiche Stufe zu stellen, so als sei den Haitianern der Hang zum Blutvergießen angeboren, wirkt schon besorgniserregend. Trotzdem gibt es wieder Hoffnung für Haiti, denn zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte waren so viele internationale Beobachter im Land. Die Hoffnung verloren haben nur die durchs Abitur gefallenen Schüler, die am Montag früh, während die Marines auf Haiti landeten, ihre Examen wiederholen wollten. Weder Busse noch Taxis fuhren an diesem Morgen, und so wurde der Prüfungstermin annulliert.