Flucht vor dem "Schwarzen Tod"

■ Aus Angst vor der Lungenpest fliehen Hunderttausende aus der westindischen Stadt Surat. Sie erhöhen damit das Risiko, daß sich die Seuche, die Mitte der vergangenen Woche die ersten Opfer forderte, auch ...

Aus Angst vor der Lungenpest fliehen Hunderttausende aus der westindischen Stadt Surat. Sie erhöhen damit das Risiko, daß sich die Seuche, die Mitte der vergangenen Woche die ersten Opfer forderte, auch auf andere Regionen des Landes ausbreitet.

Flucht vor dem „Schwarzen Tod“

In panischer Angst sind am Wochenende erneut Tausende von Menschen aus der westindischen Stadt Surat geflohen, um der dort grassierenden Lungenpest zu entkommen. Menschenmassen belagerten den einzigen Bahnhof der Zweimillionenstadt. Es kam zu Schlägereien um Busplätze, viele klammerten sich an die Gepäckroste von Bussen, um die Stadt zu verlassen. Die Zahl der Flüchtlinge wurde am Sonntag auf 400.000 geschätzt. Die Panik wuchs, nachdem am Samstag 101 Pestkranke aus einem Krankenhaus in Surat geflohen waren. Die Gesundheitsbehörden in der Hauptstadt Neu- Delhi befürchten, daß sich die Pest auf andere Regionen ausbreitet. Landesweit wurden Krankenhäuser in Alarmbereitschaft versetzt und angewiesen, vorbeugend Quarantänestationen einzurichten. Amtlichen Angaben zufolge starben bisher 39 Menschen an der Pestepidemie, inoffiziellen Angaben zufolge über hundert.

Begonnen hatte es mit einem Gerücht, das sich am Mittwoch abend vergangener Woche in Windeseile verbreitete: das Trinkwasser der Stadt sei verseucht, ein Dutzend Menschen seien im Civil Hospital, einem von drei staatlichen Krankenhäusern, bereits gestorben. Das mit dem Trinkwasser stellte sich schon bald als falsch heraus, die Wahrheit jedoch war weitaus schlimmer. 24 Menschen, berichteten die Zeitungen am nächsten Morgen, seien in den letzten beiden Tagen an Symptomen gestorben, die nur eine Diagnose zuließen: Lungenpest.

Zunächst bildeten sich vor den Apotheken lange Warteschlangen, um in den Besitz von Tetracyclin, dem einzig wirksamen Medikament, zu gelangen. Doch dies war bald ausverkauft, und die Menschen begannen, in Panik Nahrungsmittel, Kerosin und Benzin zu hamstern. Als sich im Laufe des Tages Berichte von neuen Krankheitsfällen bestätigten und immer mehr Menschen mit Tüchern vor ihren Gesichtern herumliefen, füllten sich die Busstationen mit Leuten, die die Stadt verlassen wollten. Tausende machten sich zu Fuß auf den Weg zurück in ihre Dörfer.

Die Behörden unterzogen die Flüchtlinge strengen, aber weitgehend nutzlosen Kontrollen. Surat ist eine ins Hinterland ausufernde Millionenstadt und liegt in einer dichtbesiedelten Industriezone mit hoher Mobilität. Tausende pendeln täglich 250 Kilometer weit in die beiden Metropolen Bombay und Ahmedabad.

Das plötzliche Ausbrechen der Lungenpest in Surat kam für ganz Indien unerwartet. Zwar waren im Bundesstaat Maharashtra südöstlich von Surat vor drei Wochen erstmals seit einer Generation Menschen an der Pest erkrankt. Aber Surat liegt 600 Kilometer entfernt, und zudem war dort „nur“ die Beulenpest aufgetreten, die nicht mit dem Tod endet. In Surat sind bisher jedoch keine Fälle dieser harmloseren Variante bekanntgeworden; hier handelt es sich um die Lungenpest, die nicht nur hochansteckend ist, sondern bereits nach einer Inkubationszeit von zwei Tagen mit dem Tod endet. Allerdings könnte die Pest durch Besucher eingeschleppt worden sein. Surat hat in den letzten zehn Jahren dank der Textil- und Diamantenindustrie einen regelrechten Wirtschaftsboom erlebt. Die sanitäre Infrastruktur ist dabei jedoch praktisch zusammengebrochen. Hunderttausende von Zuwanderern leben in illegalen Slums ohne Trinkwasserversorgung. Die Abwasser verwandeln sich während der Monsunzeit in riesige Tümpel und damit in Brutstätten von Krankheiten.

Inzwischen hat sich die Zahl der Infizierten rasch erhöht. Im Civil Hospital wurden am Samstag 365 Pestkranke gezählt. Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt nur langsam, nachdem diese in der Region zunächst ganz ausgegangen waren. Die Krankenhausbesatzungen sind nach Berichten von Augenzeugen auf ein paar Ärzte und Krankenschwestern zusammengeschrumpft. Die Räume werden nicht mehr gesäubert, die Betten nicht mehr neu bezogen, und für die Nahrung müssen Angehörige selbst sorgen – von Quarantäne kann so keine Rede sein.

Über das Auftreten der Krankheit außerhalb Surats gibt es widersprüchliche Angaben. In Bombay sollen bisher drei Fälle identifiziert worden sein. Die Zwölfmillionenstadt ist nicht nur wegen ihrer Ausdehnung besonders gefährdet; die sanitären Verhältnisse sind ähnlich verheerend wie in Surat. Bernard Imhasly, Neu-Delhi