Die Blaumänner waren zu Hause geblieben

■ Wagner und die anderen bei Mercedes-Benz in Halle 9: Das NDR-Sinfonieorchester montierte unter Carlo Rizzi surreale Kühlerfiguren

Auf dem langen Wege zum Veranstaltungsort im fernen Hemelingen (Halle 9 beim Daimler) umwölkten düstere Gedanken das ohnehin leicht angeschlagene Haupt des Rezensenten. Was soll er da, angesichts der kürzelhaften Ankündigungen des Bremer Musik- festes, die vermuten lassen, man werde ihn dort mit Highlights aus der Werbung traktieren. Bestenfalls könnte es etwas zu berichten geben über gut verkäufliche Spitzenprodukte aus der Welt der Musik – und der Welt der Autohersteller. Es könnte ja vielleicht ein durchaus vergnügliches Promenadenkonzert mit Girlanden, Luftballons, Knallfröschen und Mitsingen werden. Etwa: Proms meet proles. Von Letzterem war allerdings nichts zu spüren.

Dirigent Carlo Rizzi – verdienst- voller musikalischer Leiter der Welsh Opera ist nicht Justus Franz – Gott sei Dank – und die Halle 9 ist nicht die Royal Albert Hall. Und die Blaumänner waren auch nicht da. Sie haben ihre Arbeitsplätzen in der Karosserie-Endmontage fluchtartig geräumt, sie allerdings in ordnungsgemäßen Zustand den Schwarzfräcken des NDR Sinfonie-Orchesters überlassen, die unter Schichtführer Rizzi die Montage einiger Erfolgsmodelle der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts übernahmen. Als erstes entstand ein ganz auf den gehobenen Bedarf des Geisterfahrers zugeschnittenes Gefährt. Das bis ins Detail bedachte Konzept stammt von dem Tonkonstrukteur Richard Wagner. Das als „Flying Dutchman“ zum Exportschlager gewordene Modell ist als Zweisitzer angelegt. Es besticht durch das Fehlen jeglicher Sicherheitstechnologie, selbst auf Bremsen wird konsequent verzichtet, mithin auf alles, was die Liebhaber dieses Modells vom final-lethalen Crash abhalten könnte. Dafür und deswegen ist das Modell sehr empfehlenswert; einschließlich der Einbauten: eine in ihrer Wirkung überzeugende Erlösungsautomatik mit anschließender Himmelfahrt. Dem etwas gesetzten Publikum, soziologisch eher dem mittleren bis gehobenen Angestelltenbereich zuzuordnen, entlockte die trotz des nüchternen Ambientes sehr ansprechende Präsentation nur höflichen Beifall ab.

Anschließend wurde der Zusammenbau einiger französischer Kleinmodelle demonstriert. Keine traumhaft weichen, wie aus der Schmiede des Maestro Citroen, sondern atypisch aggressiv motorisierte mit harter Federung. Der auf hohe Geschwindigkeit und risikoreiches Fahren setzende Konstrukteur Hector Berlioz verarbeitet mit großem instrumentatorischen Geschick fremde und eigene Konzeptionen. „Aufforderung zum Tanz“ und „Rakocy-Marsch“ brausen ganz wirkungsvoll mit eindrucksvollen Beschleunigungsvermögen durch die Halle. Doch auch hier stellt das Publikum unter Beweis, daß es sich eigentlich lieber mit den soliden Karossen, anfreunden könnte. Die gezeigten Schaustücke litten ein wenig unter den akustischen Bedingungen. Diese ließen es zwar zu, konstruktionsbedingte Eigenheiten der Modelle intensiver zu betrachten, die auf streng arbeitsteilige Prozesse hin konziperte Halle verhinderte aber das Entstehen eines homogenen Klangbildes. Als nächstes war ein total veraltetes aber optisch gut erhaltenes Modell des seinerzeit sehr geschätzten Karosserie-Schneiders Nicclo Paganini zu besehen, das allein wegen seiner eher surrealen Kühlerfigur, Interesse erweckte.

Schließlich wurde Georges Bizets Schauspiel-Musik zu „L'Arlesienne“ aufgefahren. Man kennt die Suite, die so gern in Appetit-Häppchen verteilt von Hamburgs Dudelfunk „Klassik-Radio“ gereicht wird. Doch wider Erwarten verließ den Rezensenten die eher gequälte Lust zum Blödeln. Konnte er doch eine gelungene, farben- und kontrastreiche Zusammenstellung aus der Bühnenmusik hören, die von Texten der zugrundeliegenden Novelle von Alphonse Daudet zusammengehalten wurde.

Eingebettet in südfranzösische Volkslieder – klanglich apart vorgetragen von vier Vokalsolisten, Klavier, Harmonium (?) und Trommel – verloren die Prunk stücke der Suite ihren Kitschpostkartencharakter. Blieb auch der Verlauf der Handlung im Dunkeln, so schoben sich doch im Kopfe des Rezensenten intensive Bilder vor die nüchterne Kulisse. Von lebensfrohen Festen war zu hören, von unerfüllter Liebe, von schwerem Leid in lichtumflossener Landschaft.

Als Sprecher wirkte der Hamburger Schauspieler Dietmar Mues, der mit sachlichem Grundton und kontrollierter Expressivität auf das Schönste mit dem von Carlo Rizzi zum Glühen gebrachten orchestralen Gewoge kontrastierte und konzertierte.

So war es denn doch kein verlorener Abend, zumal des Rezensenten Kopfschmerz trotz störender Klimaanlage und Lackdüfte verschwand. Das Publikum dankte für diesen unerwarteten Einbruch musikdramatischer Wahrheit mit ehrlichem Beifall.

Mario Nietsche