: Die Fahrscheine, bitte
Wer in den Besenwagen steigt, hat verloren: Rund 3.500 der mehr als 16.000 Roadrunner kamen beim Berliner Marathon nicht ins Ziel ■ Aus Berlin Sven Christian
„Besen, Besen, warst gewesen.“ Der einstöckige Bus fährt etwas schneller als mit Schrittempo drohend hinter rund 32.000 Waden her. Der Besenwagen sammelt alle Läufer des Berlin-Marathons ein, die nicht mehr können oder die zu langsam sind.
Schon nach neun Kilometern erbeißt der Bus sein erstes Opfer: Wadenkrämpfe quälen Manfred Müller, obwohl er sich gewissenhaft auf das Abenteuer Marathon vorbereitet hat. Schon ein halbes Jahr trainiert er regelmäßig zweimal die Woche. Langsam hat er die Distanz gesteigert. Genau das empfiehlt der Arzt Thomas Wessinghage – einst Spitzenläufer der Mittelstrecken – den Anfängern: „Man sollte nicht gleich an den Marathon denken, sondern erst mal 20 Minuten locker laufen, und dann die Distanz langsam steigern.“ Bei Manfred Müller ist dieses Konzept nicht aufgegangen. „Ich bin aber in einer schnelleren Gruppe gestartet und hab' mich dann wohl etwas übernommen“, sagt er. Manfred schaut aber noch fröhlich; diese „Niederlage“ hat ihm den Mut nicht genommen, „Nächstes Jahr bin ich wieder am Start.“
Dietrich Krüger ist auch Marathonläufer. Dieses Mal kann er nicht dabei sein; Verletzungspech. Nun ist er einer der knapp 4.000 Helfer der Organisation. Wie ein Schaffner steht er an der offenen Tür des Besenwagens. Die Startnummer gilt als Fahrschein und wird beim Betreten des Busses entwertet. „Ja, wenn der jetzt anfängt zu gehen, muß ich ihn von der Strecke nehmen“, sagt Krüger. Er meint den einsamen Läufer direkt vor dem Besenwagen, Roger Perriard aus der Schweiz. Bei Kilometer 13 hat Perriard den Anschluß zum Hauptfeld verloren. „Ich fühl' mich eigentlich noch gut“, schnauft der volleibige Schweizer, „letztes Jahr hat mich der Besenwagen nach 20 Kilometern eingesammelt.“ Diesmal auch.
Den Besenwagen, auch als Lumpensammler verspottet, hat es nicht schon immer gegeben. Wie schnell der erste Marathonläufer rannte, weiß keiner. Sicher ist, damals gab es kein Zeitlimit. Marathon ist ja eigentlich nur ein Ort in Griechenland, der rund 40 Kilometer von der Innenstadt Athens entfernt ist. 490 vor Christi Geburt hat ein griechisches Heer dort eine entscheidende Schlacht gegen die Perser gewonnen. Der Bote lief voller Freude nach Hause, rief: „Freut euch, wir haben gesiegt!“ und fiel tot um. Meyers Taschenlexikon behauptet zwar, daß die Geschichtlichkeit jenes Ereignisses umstritten sei, trotz alledem quälten sich knapp 16.000 Menschen in Berlin über fast dieselbe Distanz. Die heute offiziellen 42,195 Kilometer rühren nämlich nicht aus griechischen Gefilden, sondern aus englischen: 1908 legten die olympischen Läufer diese Distanz zwischen dem Windsor Park und dem White City Stadium unter den Augen der königlichen Familie zurück. Fortan blieb es bei 42,195 km.
Der Besenwagen biegt langsam auf die Zielgerade Kudamm ein – noch zwei Kilometer bis zum Ziel. Es ist ruhig im Bus. Die erschöpften Fahrgäste sind in Wolldecken gehüllt und haben keine Lust zu reden. Die Besetzung verändert sich laufend. Weder der erste Gast, Manfred Müller, noch der Schweizer Perriard sind noch an Bord. „Schaffner“ Dietrich Krüger läßt jetzt alle, die noch laufen oder gehen können, auf der Straße. „Zwingen kann ich sowieso keinen; auf manche mußte ich aber schon eine Weile einreden, bis sie eingestiegen sind.“
Am Straßenrand stehen dreieinhalb Stunden nachdem der Erste ins Ziel kam immer noch Hunderte Zuschauer. Tosender Applaus veranlaßt die letzten drei, in leichten Trab überzugehen, ohne dabei das Tempo merklich anzuziehen. Nach 5 Stunden und 39 Minuten läuft der 28jährige Axel Kotowski glücklich ins Ziel. Er bekommt die letzte Medaille, nachdem er seine stolzen 108 Kilogramm Körpergewicht über die Ziellinie geschoben hat. Schon dreimal hat er die Strecke in Berlin bezwungen, jedesmal ein Kampf gegen sich und den Besenwagen. Seine Bestzeit liegt bei 5 Stunden und 8 Minuten. „Bei Kilometer 25 hab' ich mich massieren lassen. Als ich danach den Besenwagen überholt hab', wußte ich, daß ich es auch diesmal schaffen werde.“
Applaus ernten sogar die müden, vom Marathon gemarterten Fahrgäste im Besenwagen. Ihnen gebührt der Trost der deutschen Marathon-Queen Uta Pippig: „Die Leute müssen echt nicht traurig sein. Laufen muß nicht, wie bei mir, das Leben bedeuten.“ Wegen ihres Studiums verzichtete sie diesmal auf den Start.
50 Meter vor dem Ziel verläßt der Bus die Strecke und fährt zu den Möbelwagen, in denen die 16.000 Säcke mit den Kleidungsstücken der Läufer warten. Mit dem Lumpensammler drehen auch die Krankenwagen ab. Direkt dahinter dröhnen die echten Besenwagen. Die überdimensionierten Staubsauger der Stadtreinigung beseitigen Plastikbecher, Schwämme und Bananenschalen.
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