Weniger Gewalt ist schlecht für die Geschäfte

■ Die Wirtschaftssektoren und Berufssparten, die vom Krieg in Nordirland stets profitierten, haben bei einer Normalisierung der Lage am meisten zu verlieren

Dublin (taz) – Kann Nordirland ohne den Krieg überleben? Viele, die vom Konflikt bisher profitiert haben, stellen sich diese bange Frage, seit die Irisch-Republikanische Armee (IRA) vor vier Wochen einen Waffenstillstand verkündet hat. Die britische Krisenprovinz hängt wirtschaftlich am Subventionstropf, vier Milliarden Pfund (rund zehn Milliarden Mark) werden jedes Jahr aus London überwiesen. Das ist fast ein Drittel des nordirischen Bruttosozialprodukts. Innerhalb von 25 Jahren ist Nordirland von relativer wirtschaftlicher Selbständigkeit zu einer „zutiefst wettbewerbsunfähigen Regionalwirtschaft“ verkommen, stellte das Dubliner Wirtschaftsinstitut ESRI vor kurzem fest. Wirtschaftsexperten warnen, daß dadurch eine „Kultur der Abhängigkeit“ entstanden ist, die Innovationen und Eigeninitiative behindert.

Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich höher als in Großbritannien, in den Ghettos von Belfast und Derry beträgt sie bis zu 80 Prozent. Ohne den Konflikt wäre es um das Jobangebot noch schlechter bestellt: Zwischen 1973 und 1990 ist ein Viertel aller Arbeitsplätze in der Industrie vernichtet worden, die multinationalen Konzerne haben sich praktisch völlig aus Nordirland zurückgezogen. Gleichzeitig stieg die Zahl der Beamten. Arbeitete 1971 noch ein Viertel aller Beschäftigten für den Staat, so waren es im vergangenen Jahr bereits 36 Prozent, die Mehrheit davon Protestanten, vor allem in den oberen Etagen. Der Beamtenapparat verschlingt pro Kopf der Bevölkerung etwa 40 Prozent mehr als im landesweiten Durchschnitt – und dabei sind Polizei und Armee noch nicht einmal eingerechnet.

Die nordirische Mittelschicht hat bei einer Normalisierung der Situation denn auch am meisten zu verlieren. Polizisten gehören zu den größten Kriegsgewinnlern. Beamte mit zehn Jahren Berufserfahrung kommen mit Überstunden und Gefahrenzulage leicht auf 30.000 Pfund (rund 75.000 Mark) im Jahr. Das ist weit mehr als ihre KollegInnen in Großbritannien verdienen. So betrachten sie den IRA-Waffenstillstand mit gemischten Gefühlen. „Ich kann mich bei der IRA für meinen Sportwagen bedanken“, sagte einer von ihnen. „Sollte es jetzt Frieden geben, muß ich den Gürtel enger schnallen.“

Neben dem staatlichen Sektor blüht auch die private Sicherheitsindustrie: Alarmanlagen, Überwachungskameras, Panzerglas, Fenstergitter und gepanzerte Türen – diese Bereiche haben die größten Wachstumsraten in Nordirland zu verzeichnen. Im Sicherheitsbereich arbeiten inzwischen ebenso viele Menschen wie in der Industrie. Hinzu kommen die Berufssparten, die indirekt vom Konflikt profitieren: Glasereien, Bauunternehmen, Rechtsanwälte. Sie haben den Rückgang der Gewalt bereits am Geldbeutel zu spüren bekommen. „Vor zwei Jahren hatte ich ausschließlich Fälle, die mit der politischen Situation zusammenhingen“, sagt der Anwalt Barra McGrory, „heute ist es nur noch die Hälfte.“

Graham Gudgin, der Direktor des Nordirischen Wirtschaftsinstituts, rechnet damit, daß etwa 20.000 Jobs verlorengehen werden. „Langfristig sind zwar 20.000 bis 25.000 neue Arbeitsplätze zu erwarten, die Hälfte davon jedoch im Tourismus“, sagt er. „Diese Jobs sind traditionell schlecht bezahlt und keineswegs ein direkter Ersatz beispielsweise für Stellen bei der Polizei.“ Während die Tourismusindustrie in der Republik Irland sechs Prozent zum Bruttosozialprodukt beiträgt, sind es in Nordirland lediglich zwei Prozent. Von 60.000 BesucherInnen, die im vergangenen Jahr mit dem staatlichen südirischen Busunternehmen CIE Tours nach Irland gekommen sind, haben nur 2.500 den Sprung über die Grenze gewagt.

1978 mußte der damalige Direktor des nordirischen Fremdenverkehrsamtes, Robert C. Hall, zugeben: „Bei dem Titel für das unbeliebteste Reiseland der Welt liegen wir mit Uganda gleichauf an letzter Stelle.“ Sein Nachfolger Hugh O'Neill ist seit dem IRA-Waffenstillstand optimistisch. Er prophezeit, daß die Zahl der Touristen innerhalb von drei bis fünf Jahren um 40 Prozent steigen könnte, falls sich der Frieden als dauerhaft erweist. Hilton International hat am selben Tag, an dem der Waffenstillstand verkündet wurde, bekanntgegeben, daß in Belfast ein Luxushotel mit 187 Zimmern und Arbeitsplätzen für 200 Menschen entstehen soll. Geschätzte Baukosten: 17 Millionen Pfund (etwa 42,5 Millionen Mark).

Auch Michael Smyth, Wirtschaftsdozent an der New University of Ulster, sieht hoffnungsvoll in die Zukunft. Er ist davon überzeugt, daß die britische Regierung das Geld, das sie im Sicherheitsbereich einspart, anderweitig in die nordirische Wirtschaft stecken wird. Hinzu kommen Mittel, die von der Europäischen Union und der US-Regierung bereits zugesagt worden sind, sowie private Investitionen, so daß die Zahl der Arbeitslosen nach Smyths Einschätzung um 60.000 gesenkt werden kann.

Den Einwand, daß das Verteidigungsministerium wegen der Haushaltskürzungen ohnehin 40.000 Soldaten zu Zivilisten machen muß und ausländische Investoren in Großbritannien immer noch mit einer größeren Rendite als in einem friedlichen Nordirland rechnen können, läßt Smyth nicht gelten. „Es werden sehr schwierige Anpassungen nötig sein“, räumt er ein, „aber am Ende muß die Friedensdividende einfach größer sein als der Multiplikationseffekt der Subventionen.“ Ralf Sotscheck