Die Bevölkerung feiert die US-Amerikaner

■ Die Stimmung in Haiti ist explosiv, viele wollen Rache an Cédras' Schergen

Jean Tatoum stammt aus Raboteau, dem Elendsviertel von Haitis zweitgrößter Stadt Gonaives. Im Februar 1986 stand er an der Spitze der Schülerdemonstrationen, die zum Sturz von „Baby Doc“ Duvalier führten. Am Sonntag entging er nur mit knapper Not dem Tod; eine aufgebrachte Menschenmenge versuchte, ihn auf den Straßen von Gonaives zu steinigen. Was war passiert? Jean Tatoums Schicksal ist typisch für Haitis Entwicklung seit dem Ende der Duvalier-Diktatur. Unter der Militärherrschaft wurde der einstige Organisator von Protestdemonstrationen zum Spitzel der Polizei; die Armee hatte ihm seine politische Überzeugung abgekauft. US-Marines entwaffneten Jean Tatoum, als er einen Aristide-Anhänger mit der Pistole bedrohte. Die Amerikaner retteten ihm das Leben, indem sie ihn vor dem Volkszorn beschützten und zur nächstgelegenen Kaserne eskortierten. Aus amerikanischer Sicht handelt es sich um einen Fall von innerhaitianischer Gewalt, die mit allen Mitteln zu unterbinden ist, aus haitianischer Sicht geht es um die längst fällige Abrechnung mit den Schergen des Militärregimes.

Vor den Polizeistationen in Port-au-Prince rottet sich das Volk zusammen und verlangt von den Amerikanern, die hier Seite an Seite mit Haitianern Dienst tun, die Bestrafung ihrer Peiniger. Die explosive Stimmung droht jeden Augenblick in Gewalt umzuschlagen. Der Zwischenfall von Cap- Haitien, wo US-Marines zehn Haitianer töteten, die sie angeblich aus einer Polizeistation heraus beschossen, ist symptomatisch in mehrfacher Hinsicht: Obwohl ein amerikanischer GI inzwischen zugab, das Feuer eröffnet zu haben – angeblich fühlte er sich durch die Haitianer bedroht – veranstaltete die Bevölkerung Freudentänze auf den Straßen von Cap-Haitien und plünderte die Polizeistation. Juntachef Cédras bezeichnete den Vorfall als schwere Menschenrechtsverletzung, aber die Aufrufe der mit Haitis Militärs verbündeten Duvalieristen zum nationalen Widerstand finden keinerlei Echo bei der Mehrheit der Bevölkerung – im Gegenteil: Die Bevölkerung sympathisiert mit den Amerikanern und hofft auf die baldige Rückkehr von Aristide. Zwar werde heute das erste Kontingent von Boat people aus Guantánamo nach Haiti repatriiert, aber bis zur Herstellung demokratischer Verhältnisse ist es noch ein weiter Weg.

Gestern begann die Entwaffnung von Haitis gefürchteter Killertruppe, der Attachés. Wer leichte Waffen bei den Sammelstellen der US Army abliefert, bekommt 50 Dollar ausgezahlt, für schwere Waffen gibt es bis zu 300 Dollar Belohnung pro Stück, in haitianischer Währung, zum tagesüblichen Wechselkurs. 50 oder 100 Dollar sind viel Geld in einem Land, dessen Bewohner zu 80 Prozent arbeitslos sind, aber es ist zu bezweifeln, ob die Schergen des Militärregimes das Faustpfand ihrer Macht so leichtfertig aus der Hand geben. In Haiti ist der politische Diskurs mit Leichen interpunktiert, und die Kluft zwischen Worten und Taten war hier immer schon größer als anderswo. Ob die Militärjunta ihre vertraglich eingegangenen Verpflichtungen erfüllt, hängt vor allem vom Druck der Amerikaner ab.

Heute steht eine erste Kraftprobe bevor, wenn Haitis Parlament zusammentritt, um über das Amnestiegesetz für die Putschisten zu beraten. Morgen soll dann der Aristide nahestehende Evans Paul ins Bürgermeisteramt von Port-au-Prince einziehen.

Aus Angst vor Mordanschlägen hielt sich Evans Paul, ebenso wie die frei gewählten Parlamentarier, seit dem Putsch vor drei Jahren im Untergrund versteckt. Hans Christoph Buch,

Port-au-Prince