Mordprozeß ohne Mörder

■ Anklageschrift im Kaindl-Prozeß: Der Täter, der den Rechtsextremisten erstach, ist flüchtig

Berlin (taz) – Nach einem „gemeinsam verfaßten Plan“ und „aus politisch motiviertem Haß“ sollen sechs Türken und ein Deutscher den rechtsradikalen Politiker Gerhard Kaindl ermordet haben. Dies wirft ihnen die Anklageschrift vor, die gestern im Kaindl-Prozeß vor dem Landgericht Berlin verlesen wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten im Alter zwischen 19 und 33 Jahren gemeinschaftlich begangenen Mord und sechsfache gefährliche Körperverletzung vor. Sie sollen am 4. April 1992 eine Versammlung von sieben Mitgliedern und Sympathisanten der rechtsextremen „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ (DL) in einem Chinarestaurant im Bezirk Neukölln angegriffen haben. Dabei wurde der 47jährige Schriftführer der Partei, Gerhard Kaindl, durch drei Messerstiche in den Rücken so schwer verletzt, daß er wenig später im Lokal verstarb. Das damalige DL-Mitglied Thorsten Thaler wurde durch drei Stiche in die Bauchregion schwer verletzt und mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Laut Staatsanwaltschaft beteiligte sich an der Aktion eine Gruppe von 12 bis 14 Personen. Die tödlichen Stiche auf Kaindl, die mit einem 25 Zentimeter langen Messer erfolgten, legte die Staatsanwaltschaft dem flüchtigen Cengiz U. zur Last. Er wird zusammen mit drei weiteren Tatverdächtigen steckbrieflich gesucht. Der einzige Deutsche unter den Angeklagten, Carlo B., soll laut Staatsanwaltschaft auf Thorsten Thaler eingestochen haben. Die Verhaftungswelle im Fall Kaindl war im November 1993 durch die Aussage des heute 19jährigen Erkan S. ausgelöst worden. Nach einem gerichtsmedizinischen Gutachten litt Erkan S. zur Tatzeit an einer „paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie“ und wurde daher gestern für schuldunfähig erklärt. Die Staatsanwaltschaft will deshalb nach Ende des Prozesses seine dauerhafte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beantragen. Zwei der Angeklagten, die sich zur Mitgliedschaft in der türkisch-kurdischen „Antifasist Genclik“ (Antifaschistische Jugend) bekannten, wiesen gestern die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zurück. Der Angeklagte Abidin E., der mit einer Metallstange auf einen der Teilnehmer eingeschlagen haben soll, will in der Tatnacht weder in der Gaststätte noch in deren Nähe gewesen sein. Fatma B., die sich nicht zur Sache äußerte, warf dem polizeilichen Staatsschutz vor, an einem „abschreckenden Urteil“ interessiert zu sein. Die Kammer verzichtete gestern darauf, die Öffentlichkeit wegen des zur Tatzeit noch Jugendlichen Erkan S. vom weiteren Verfahren auszuschließen. Dieser Verzicht sei notwendig, um dem Eindruck entgegenzuwirken, bei dem Verfahren handele es sich um einen „Schauprozeß“, so das Gericht. Severin Weiland