Die Erde bebt, und Schröder lebt

■ Der niedersächsische Ministerpräsident sprach gestern abend im Schöneberger Rathaus und bestätigte sein leicht arrogantes Image / Ab und an witzelte er populistisch

Wenn man sich's recht überlegt, ist der Wahlkampf gerade in seiner heißen Phase schon eine seltsame Sache. Er wird zwar mit Bildern aus der Welt des Sports geschildert, doch die Lager der Akteure, die da angeblich Kopf an Kopf rennen würden oder zumindest noch nicht ganz abgeschlagen seien, sieht man nicht. Als Wahlbürger steht man sozusagen in der letzten Reihe, die breiten Schultern der Vorderleute verdecken das Geschehen. Ab und an erzählen sie einem, wie's gerade steht. Es ist noch komplizierter, denn das demoskopische Rennen findet im Imaginären statt, und die eigentlichen Akteure – also die Wähler – sind ja noch gar nicht losgerannt.

Mit solchen Überlegungen ließ sich das Warten auf Schröder ganz gut ausfüllen. Gerade in Sachen SPD bieten sich sportliche Überlegungen ja auch an. Seit dem Hallenser Parteitag macht man sich mit dem Hoooliganruf „Jetzt geht's los“ Mut, der Jugendsenatoronkel Krüger posierte daraufhin als Nacktsportler, und der Kandidat, für den die Jusos mit der Titanic- Adaption „Versucht Ziege zu wählen“ zu werben versuchen, zierte im hautengen Radfahrerdress die Wahlplakate, kurz: „Sport durchdringt fast alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft. Sportlichkeit gehört zum modernen Lebensstil.“ (Scharping) Andererseits gemahnte die Wahlkampfveranstaltung auch ein bißchen an ein Rockkonzert – mit Vorgruppen (der Kreuzberger Kandidat Kurt Neumann u.a.), vielen sympathisch aussehenden jungen Menschen, die auf dem Boden rumsaßen (keine Stühle, denn die SPD ist eine offene Partei), und langem Warten auf den Superstar des Abends, der längst Bekanntes live noch einmal und besonders charismatisch variieren und improvisieren sollte. Die Erde bebt, Schröder lebt.

Nach einer Stunde Verspätung – es hatte noch eine „DreamTeam“-Session in Frankfurt gegeben – kam er. Was heißt „er kam“: Beflügelten Schritts, als wolle er alle Müdigkeit von sich schütteln, eilte der Superminister in spe wie Mick Jagger im Blitzlichtgewitter über die Treppen, durch die Hallen an tausend offenen Mündern vorbei in den überfüllten Saal. Nicht ans Pult stellte er sich, sondern setzte sich zunächst davor auf ein Treppchen, ganz nah den Genossen, sie nicht überragend: klasse Pose für die Fotografen, die begeistert um ihn herumhüpften. Ein paar Jusofrauen fielen in Ohnmacht. Beschwingt und ohne Intro sprach Schröder. Schon bald entledigte er sich kämpferisch seines Jacketts. Eingerahmt von zwei Sicherheitsleuten, die ein bißchen wie die Karikatur von Sicherheitsleuten aussahen, verhehlte er nicht, daß er immer noch lieber Kanzler als Superminister werden würde.

Schröder erfüllte sein machtverliebt, leicht arrogantes Image: Für eine rot-grüne Koalition sei er durchaus. „Versöhnungsinseln von Ökonomie und Ökologie“ wolle man schaffen, allerdings müsse dabei klar sein, wer „Koch“ und wer „Kellner“ sei. Anders als der sympathisch wirkende Kreuzberg-Kandidat Kurt Neumann, dem der selbsternannte Vorsitzende der Toskanafraktion die fehlende Krawatte vorhielt, verwarf Schröder die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Lustig war – nebenbei –, daß Neumann viel toskanagebräunter wirkte.

Schröders Gestenreichtum vermochte durchaus zu überzeugen, wobei die Arbeit mit seiner rechten Hand besonders hervorzuheben ist: Mal formte er sie zur Kralle, mal ballte er sie, mal reckte er den Zeigefinger, wobei die linke Hand sich durchgehend in seiner Hosentasche ausruhen durfte.

Ab und an witzelte er ein wenig populistisch oder streute Anekdoten: „Was braucht der, der wenig zu beißen hat, auch noch gute Zähne“ – so sei die Politik der Bundesregierung. Oder: Die FDP sei „die Partei, deren Massenanhang in einer Telefonzelle Platz hätte“.

Nun gut. „Politik ist immer“, rief Schröder am Ende unter patschendem Beifall. Sichtlich erschöpft, nahm er sich noch einmal für die Zugaben (Fragen aus dem rot-grün gesinnten Publikum) zusammen, schrieb ein Autogramm ins Adornobüchlein eines erfreuten ALlers und rauschte, nicht weniger energisch, als er gekommen war, wieder von dannen. Am Ausgang hatte der sympathische Politaktivist Christian Specht eine lustige Idee: „Scharping Bundeskanzler, Schröder Bürgermeister“. Detlef Kuhlbrodt