„Ich bin krank“

■ „Bartsch, Kindermörder“ von Oliver Reese in der Studiobühne des MGT

Keine Anklage – weder an die Familie, die ihm die Liebe verwehrte, noch an die Gesellschaft, die den Fall dämonisierte: Der Monolog, den Oliver Reese aus den Briefen von Jürgen Bartsch an den amerikanischen Journalisten Paul Moor zu einem Theaterabend zusammenstellte, zeigt den Kindermörder frei von Ressentiments. Uraufgeführt wurde der Monolog vor zwei Jahren in Ulm, Reese, jetzt Chefdramaturg am Maxim Gorki Theater, hat die Inszenierung mitgebracht.

Kein böser Täter steht vor uns, doch auch kein verzweifeltes Opfer. Thomas Schmid erzählt als Jürgen Bartsch einfach seine Geschichte. Die lakonisch so beginnt: „Meine leibliche Mutter, ja, die hat mich sitzenlassen in der Klinik.“ In einem schwarzen, schmalen Raum geht er rauchend auf und ab, im Anzug, das Hemd hängt ihm aus der Hose. Manchmal steht er im Dunkeln, manchmal im verhörartigen Lampenlicht. Mit Kreide schreibt er Schlüsselerlebnisse an die Wand, mit wenigen Requisiten macht er die Erinnerung plastisch.

Die Pflegeeltern führten eine Metzgerei, in der auch Bartsch arbeitete. Skizzenartig zeichnet er das Schweineschlachten an die Tafel, erzählt, wie ihm die schreienden Schweine im Schlachthof davonliefen, er sie einfangen mußte, aufschlitzen, die Gedärme herausholen und die Tiere von oben bis unten in der Mitte (die der junge Bartsch nie traf) zerteilen sollte. Das ist komisch und entsetzlich.

Bei Schnulzen von Heintje und Freddy geriet Bartsch als Kind ins Träumen – kurz und schauerlich klingen sie hier an. Die glücklichsten Momente erlebte der Junge als Meßdiener im Internat. Gebeugten Kopfes zelebrierte er das Bekenntnis von „mea culpa“ – schon vor der Tat. Das Mystische faszinierte den „Jungen am Altar“ – doch in der Inszenierung wird die Erinnerung entweiht.

Kuchen auf einem Tablett verteilt er als Hostien. Erstaunlich distanziert, ohne Selbstmitleid, bleibt der Tonfall von Thomas Schmid während der ganzen Beschreibung der Kindheit und Jugend ohne Liebe, stellenweise lächelt er, fast verschlagen.

Die sparsame, aber präzise Regie läßt die Geschichte für sich wirken. Ganz unauffällig heißt es plötzlich: „Ich bin krank“ – die wesentliche Aussage. Sie verdichtet sich erst zur dramatischen Beschreibung, als es um Einzelheiten in der Schilderung der Morde geht: Wie der Kindermörder auf Knabenfang ging, die Acht- bis Dreizehnjährigen in eine Höhle lockte und dort umbrachte.

Als kurzer Epilog werden einige Zaubertricks vorgeführt, Bartsch beschäftigte sich damit in seiner Freizeit. Rote Kugeln symbolisieren den Zauber der nicht einholbaren Jugend: ein gewagt poetischer, doch funktionierender – Schluß. Denn am Ende platzt der Luftballon: die Taten werden an keiner Stelle gerechtfertigt. In dem anderthalbstündigen Theaterabend wird weder psychologisiert noch moralisiert. Oliver Reese und Thomas Schmid haben sich dokumentarisch auf die Lebensgeschichte eines Kranken und Mörders eingelassen. Bartsch wird ernstgenommen, als Mensch, der krank ist, aber ein Recht auf seine Geschichte hat. Dargestellt ist das sehr beeindruckend. Margit Knapp Cazzola

Nächste Aufführung: 6.10., 20 Uhr, Studio des Maxim Gorki Theaters, Hinter dem Gießhaus, Mitte.