: Revolutionäre als Menschen
Thomas Heises Inszenierung von Heiner Müllers Revolutionsdrama „Zement“ ■ Von Gerd Hartmann
Ein harter Brocken ist das schon: gute dreieinhalb Stunden Historiendrama, aus einer Zeit, die ebensolang vorbei zu sein scheint wie die griechischen Heldenmythen. Dabei liegt die geschichtliche Situation, die Heiner Müller in „Zement“ beschreibt, gerade mal ein Dreivierteljahrhundert zurück: Im Rußland der Jahre 1920/21 spielt das Stück über den Übergang vom Kriegskommunismus zu Lenins Neuer Ökonomischer Politik.
Ob der Mensch überhaupt fähig sei, Ideologie in Wirklichkeit umzusetzen, wird da verhandelt, ob und in welchem Maß die Realisierung eines Befreiungstraums den Einsatz von Gewalt rechtfertige. Müller sympathisiert mit der Revolution, bleibt aber skeptisch. Die Theorie, die seine Figuren auf den Lippen tragen, ist immer eine Nummer zu groß für die Wirklichkeit. Daran scheitern sie zwar nicht, aber der Kampf gegen innere Widerstände und die desolate Umgebung hinterläßt tiefe Wunden.
Das Zementwerk, ein verwahrloster Ziegenstall am Anfang, als der Bürgerkriegsheld Tschumalow voller Erneuerungsgeist vom Kampf heimkehrt, nimmt am Ende die Produktion wieder auf. Die Sache des Kommunismus kann vielleicht siegen, sagt Müller hier mit verhaltenem Optimismus – nicht mit strahlenden Propagandahelden allerdings, sondern mit trotzigen, manchmal auch verzweifelnden Menschen.
Als Ruth Berghaus 1973 die Uraufführung am Berliner Ensemble inszenierte, war solches Kratzen an der goldenen Revolutionspatina schiere Provokation. Davon ist heute nichts mehr übrig. Der Text wirkt stellenweise arg pathetisch, die Figuren sind weiter weg als Danton und Robespierre.
Dessen ist sich Regisseur Thomas Heise wohl bewußt. Deshalb zeigt er das Szenario modellhaft als antikes Drama. Eine Fabrikhalle hat er sich dafür ausgesucht. Wo in der früheren Gesellschaftsordnung Tausende von Menschen Kabel herstellten, warten heute die gespenstisch großen Maschinen auf den Abtransport. Wie im Stück. Doch Heise läßt sich auf die Analogie kaum ein. Die Metallungetüme sind Hintergrund, Kulisse. Davor ist ein riesiger, kreuzförmiger Steg aufgebaut. Dort stehen und rennen die Protagonisten, ihre Sätze sezierend.
Der tatendurstige Heroe Tschumalow trägt Eisenhandschuh, Schwert und metallene Kampfkappe, als wäre er einer griechischen Tragödie entsprungen. Auch kein anderes Kostüm läßt Assoziationen auf russische Revolutionsfolklore aufkommen. Es geht um ein Experiment im Reagenzglas. Dementsprechend klar und karg sind die Bilderchiffren.
Ein paar Stühle und Schreibtische dienen als Requisiten, ein Metallbett, wenn es darum geht, wie die neue Gesellschaft das persönliche Verhältnis zwischen Tschumalow und seiner Frau Dascha verändert hat. Die beiden stehen reglos davor. Tschumalow fordert seine partiarchalischen Eherechte ein. Doch Dascha hat sich über ihre politische Arbeit im Exekutivkomitee emanzipiert, gleichzeitig scheint ihr Liebe nicht mehr möglich zu sein. Sie stehen nur da. Tschumalow versucht nicht, sie zu vergewaltigen, wie es der Text vorschreibt. Das legt den Kern frei.
Heise setzt weder auf Action noch auf Psychologie. Seine Figuren sind Textträger. Kaum einmal verlieren sie ihre Distanz. Sie zwingen zum genauen Hinsehen und -hören. Jede Geste zählt: ein kleines Wunder. Unter der geschichtlichen Situationsbeschreibung wird ein Entwurf menschlichen Zusammenlebens sichtbar, der auch heute noch diskussionswürdig ist. Unmodern, sperrig und abseits bilderwütiger Beliebigkeit – so gewinnt ein Ensemble, in dem alle konsequent am gleichen Strang ziehen.
Noch am 1./2. sowie vom 6.–8.10., 20 Uhr, KWO-Gelände, Halle 4, Tor 7, Wilhelminenhofstraße 76–77, Schöneweide.
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