Geistig Behinderte mischen sich ein

■ Zum ersten Mal können psychisch Kranke an einer Bundestagswahl teilnehmen

Bremen (taz) – Wahlberechtigt ist man eigentlich ab dem 18. Lebensjahr. Nicht jedoch Heinz Cramer aus Bremen, er ist 50 Jahre alt und geistig behindert. Dieses Jahr erhält er zum ersten Mal eine Wahlbenachrichtigung für die Bundestagswahl und freut sich schon auf den Urnengang. Bis vor einem Jahr war er entmündigt und damit nicht wahlberechtigt. An seinem Gesundheitszustand hat sich im letzten Jahr nichts geändert. Was sich geändert hat, ist die gesetzliche Grundlage. Denn seit dem 1. Januar 1992 werden geistig Behinderte nach dem neuen Betreuungsgesetz zunächst einmal als voll geschäftsfähig definiert und sind damit auch wahlberechtigt. Während per Gericht früher nur darüber entschieden wurde, ob jemand entmündigt wird oder nicht, ist es heute möglich, geistig Behinderte und psychisch Kranke nur partiell zu entmündigen.

Heinz Cramer ist durchaus in der Lage, seine Bedürfnisse zu formulieren und Entscheidungen zu fällen. Er braucht dafür nur mehr Zeit. Aber die Tatsache, daß er langsamer denkt, kein Verständis für Zeit hat, mit Geld nicht umgehen und nicht lesen und schreiben kann, rechtfertigt nach dem neuen Gesetz nicht, ihn von der politischen Mitbestimmung auszuschließen. In seinem Fall hat das Gericht entschieden, daß er nur bei der „Vermögenssorge“, sprich beim Umgang mit Geld eine behördliche Betreuung braucht.

Circa 350.000 Vormundschaftsfälle müssen die Gerichte derzeit allein in den alten Bundesländern erneut bearbeiten. Jeder Einzelfall muß nach der neuen Rechtslage überprüft und neu eingestuft werden. Doch das erfolgt nicht automatisch. Im Fall von Heinz Cramer hatten pädagogische MitarbeiterInnen seines Wohnheims einen Antrag beim Gericht gestellt und so dafür gesorgt, daß er neu eingestuft wurde.

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe informierte ihre Landes- und Ortsverbände bereits zur Europawahl über das Wahlrecht der geistig Behinderten. „Außerdem“, so Ulrich Hellmann, Jurist bei der Bundesvereinigung, „bieten wir Fortbildungen für unsere Mitarbeiter an.“ Schwierigkeiten gäbe es zur Zeit noch im Osten. „Die Mitarbeiter dort müssen erst sensibilisiert werden. Daß geistig Behinderte wählen dürfen, ist vielen dort noch sehr fremd.“

Auch beim Arbeitersamariterbund (ASB) werden bereits seit längerem Vorbereitungen für die Bundestagswahl getroffen. Seit anderthalb Jahren führt der ASB Workshops zum Thema Wahlrecht durch und verschickt gezielt Informationen an die Betreuungsvereine. „Wir haben unsere Landesverbände zum Beispiel aufgefordert, in den Wählerverzeichnissen zu überprüfen, ob die Behinderten dort eingetragen sind“, erklärt Olaf Biesenbach, Referatsleiter der Abteilung für Soziale Dienste beim ASB. Bei der Europawahl hätten nämlich einige der geistig behinderten Erstwähler vor den Urnen gestanden und durften trotz intensiver Vorbereitung kein Kreuzchen machen, weil sie nicht in den Wählerverzeichnissen standen. Niemand hatte daran gedacht, das im Vorfeld zu überprüfen.

Einen gänzlich anderen Weg schlagen dagegen die Arbeiterwohlfahrt (AWO), das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und der Paritätische Wohlfahrtsverband ein. Sie verlassen sich darauf, daß an der Basis das Richtige getan wird und verzichten auf spezielle Schulungen für die MitarbeiterInnen. Wolfram Eberhardt, Pressereferent beim DRK in Bonn: „Das ist ein sehr sensibler Bereich, da wollen wir lieber neutral bleiben, sonst heißt es hinterher, wir hätten die Behinderten manipuliert.“

Auch beim Deutschen Caritasverband möchte man sich nicht unnötig einmischen. So meint Niko Roth, Vorsitzender des Verbandes katholischer Einrichtungen für lern- und geistig Behinderte: „Es scheint juristisch noch nicht einwandfrei geklärt zu sein, ob geistig Behinderte wählen dürfen oder nicht. Das Vormundschaftsgericht in Würzburg ist jedenfalls der Ansicht, sie dürften nicht und hat bei der Überprüfung einiger Behinderter aus unserer Einrichtung auch durchweg negativ entschieden.“ Jetzt soll sich das Innenministerium zur gültigen Rechtslage äußern, da sonst der Verdacht bestehenbleibt, daß die Würzburger Richter das Betreuungsgesetz besonders eng ausgelegt haben, um zu verhindern, daß geistig Behinderte wählen dürfen. Gudrun Kaatz