Mit einem kleinen Kind im Knast

■ Die anderthalbjährige Deborah lebt bei ihrer Mutter in einem Lübecker Gefängnis Von Lisa Schönemann

Deborah ahnt nicht, wie schwer die Mauern und Zäune zu überwinden sind. Die Gitterstäbe vor dem Fenster ähneln dem Gitter an ihrem Bett. Siebzehn farbenprächtige Plüschtiere klemmen zwischen den Stäben und machen einen sorglosen Eindruck. Deborah ist achtzehn Monate alt. Sie hat nichts verbrochen. Warum sollte sie sich vor Stacheldraht fürchten?

Das Mädchen lebt mit seiner Mutter in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lübeck. Mit seinen kleinen Füßen versucht das Kind, die Schwelle zwischen den beiden Räumen zu überwinden, die beiden in der Mutter-Kind-Abteilung zur Verfügung stehen. Deborah fischt sich einen Keks vom Teller auf dem kleinen Tisch und läuft - sichtlich stolz auf ihre ersten Sandalen - vorsichtig zu ihrer Mutter. Margarete Zobel (Name von der Redaktion geändert) zündet sich die nächste Zigarette an und kommt der im Raum stehenden Frage zuvor. Nein, sie finde es nicht grausam, ein Kleinkind dem Leben hinter Gittern auszusetzen. Sechs Wochen vor Deborahs Geburt sei sie aus dem Frauengefängnis der JVA Lübeck hierher umgezogen. „Es gibt genug Leute draußen, die das nicht haben, was wir hier haben.“ Sie könne sich ihrer Tochter mehr widmen als eine Mutter, die sich ständig Sorgen um den Verlust ihres Jobs oder ihrer Wohnung machen müsse.

„Mein Kind hat hier sogar ein eigenes kleines Reich“, sagt Margarete Zobel. „Bis die Kleine alt genug ist um Fragen zu stellen, sind wir hier weg.“ Die Gefangene spricht jetzt schnell und nachdrücklich. „Ich wollte das Kind haben, es aufwachsen sehen und erziehen, wie sich das gehört. Um meiner Tochter willen werde ich jetzt kämpfen.“ Ob des ungewohnt energischen Tonfalls starrt Deborah die Mutter einen Augenblick lang an und wendet sich dann wieder dem Glockenspiel zu, das auf der Schlafcouch liegt und dem sich so helle Klänge entlocken lassen. Das kleine Mädchen wirkt weder scheu noch besonders er-staunt über den fremden Besuch. Die widrigen Lebensumstände in der JVA sind ihm nicht anzumerken.

Der Tag der Anderthalbjährigen mit dem dünnen Pferdeschwanz ähnelt weitgehend dem Alltag eines in Freiheit lebenden Kindes. An Zeit zum Spielen und Kuscheln fehlt es nie. Das Gefängnis verfügt über einen eigenen, von Stacheldraht umgebenen Spielplatz. Ein starres Reglement wie im Normalvollzug gibt es in der Mutter-Kind-Abteilung nicht. Weder werden die Gefangenen in aller Herrgottsfrühe geweckt und der sogenannten Lebendkontrolle unterzogen noch zur Arbeit gerufen. Margarete Zobel ist froh, stumpfsinnigen Tätigkeiten wie dem Wickeln von Operationsmaterial für den Krankenhausbedarf zu entgehen. „Früher habe ich davon pro Tag 400 Stück fertiggestellt“, erinnert sie sich. Stattdessen kümmern sich die Frauen um ihren Trakt mit den Zellen, dem großzügigen Aufenthaltsraum und der Küche. Das Frühstück bereiten sie selbst zu. Mittags und abends wird das Anstaltsessen hochgebracht. Auf dem Flur ist viel Platz zum Spielen. Deborah kann dort mit den anderen Kindern herumtoben. Das Ende des Ganges ist durch eine schwere Tür gesichert, durch deren Milchglasscheibe Margarete Zobel manchmal auf die Nachbarstation zu spähen versucht. Dort befindet sich ihr Mann in Haft. Am Wochenende ist ihnen der gegenseitige Besuch gestattet.

Mutter und Kind dürfen das Gefängnis jeden Tag für einige Stunden verlassen. Bei gutem Wetter gehen sie hinunter ans Ufer der Wakenitz. Dann klettert das kleine Mädchen aus der Kinderkarre und versucht, den Vögeln hinterherzulaufen: „Deborah mag Möven und Enten gern leiden.“ Unterwegs sprechen sie mit niemandem. Margarete Zobel hat Angst vor Kontakten. Jemand könnte ihr im Gespräch anmerken, woher sie kommt. Beim Einkaufen wägt sie sorgfältig ab, was sie von dem wenigen Geld, das ihr monatlich zur Verfügung steht, für die Kleine kaufen könnte. Wie viele Mütter im Gefängnis hat sie den Ehrgeiz, ihre Tochter nicht mit Anstaltsessen zu füttern. Jede Mark, die sie ausgeben möchte, muß vorher beantragt werden. Unterhalt, Kindergeld und sonstige Leistungen für die Gefangenen werden von der JVA verwaltet.

Nach spätestens drei Stunden muß der Ausgang beendet sein. Dann schließen sich wie von Geisterhand gesteuert zwei schwere Gittertore hinter Deborah und ihrer Mutter. Der meterhohe Wachturm erinnert zu jeder Tageszeit daran, daß dies kein normales Zuhause ist. Ein gutmütig dreinblickender Schließer bringt sie in ihren Trakt. Wie die meisten Strafvollzugsbediensteten hat er sich angewöhnt, mit der Kette und dem daranhängenden wuchtigen Schlüsselbund zu spielen. Vielleicht ist dieses metallene Klirren das einzige ungewöhnliche Geräusch, das Deborah später an ihre ersten Lebensjahre erinnern wird.

Im ehemaligen sozialtherapeutischen Flügel der Lübecker Strafvollzugsanstalt sitzen zur Zeit drei Frauen mit insgesamt fünf Mädchen und Jungen ein. Wenn tatsächlich einmal alle fünf Haftplätze genutzt werden, dann nur für kurze Zeit: Abgelehnte Asylsuchende und ihre Kinder müssen die letzte Phase vor der Abschiebung hinter Gittern verbringen. Der Kontakt zwischen einheimischen und ausländischen Gefangenen beschränkt sich auf das Allernötigste, berichtet Margarete Zobel. „Man versteht die ja nicht.“

Margarete Zobel bekommt selten Besuch. Die verschlossenen Gesichtszüge der Vierzigjährigen mit dem kurzgeschnittenen Haar spiegeln Mißtrauen wieder. Sie ist schmal und sieht, gänzlich in schwarz gekleidet, etwas älter aus, als sie ist. Bei der Frage nach ihrem Lebenslauf zuckt sie unmerklich zusammen und fragt ablenkend: „Ist doch ganz erträglich hier, oder?“ Die Gitterstäbe vor den Fenstern sind offensichtlich gerade weiß lackiert worden. „Ach, die seh' ich schon lang nicht mehr“, sagt Margarete Zobel mit einer wegwischenden Handbewegung. Die Unfreiheit und die täglich spürbaren Einschränkungen machen sich für sie anders bemerkbar: Die Bevormundung durch die Anstaltsbediensteten, die erzwungene Unselbständigkeit und das Gefühl, daß Jahre sinnlos verstreichen. Außerdem kann sie sich nur innerhalb des Mutter-Kind-Traktes uneingeschränkt bewegen. Alle weitergehenden Schritte können nur in Begleitung eines Schließers unternommen werden.

Nach wievielen Jahren wird es zur Gewohnheit, eingesperrt zu sein? Margarete Zobel läßt niemanden hinter ihre Kulissen schauen. Sie hat sich in ihren Hafträumen so eingerichtet, daß der Gedanke an eine Gefängniszelle möglichst nicht aufkommt: Grüne Polstersessel, eine Schlafcouch, hohe Schränke. Während das hintere Zimmer mit Wickeltisch, Schaukelpferd und Hochglanz-Tierphotos an der Wand ganz für die anderthalbjährige Deborah hergerichtet wurde, erinnert das vordere in liebevollen Details an eine bürgerliche gute Stube. Auf einer Kommode gurgelt die Kaffeemaschine. Neben dem gelbem Fernseher liegen Programmzeitschriften und Süßigkeiten. Über der Couch hängen gerahmte Bilder von Deborah und Glückwünsche zum vierzigsten Geburtstag der Inhaftierten. Die Insassin verfügt sogar über einen Zellenschlüssel. Ein Stück Privatsphäre, das sonst im Gefängnis undenkbar wäre. „Es ist ja so, man möchte auch mal allein sein“, sagt sie, „dann schließe ich die Hütte einfach von innen ab.“

Margarete Zobel hat sich durch eine lange Therapie im Gefängnis von der Alkoholsucht befreit. Sie sei bei den Großeltern und in Heimen aufgewachsen. Leise, abgehackt und unsicher erwähnt die Gefangene die ersten Erfahrungen als Prostituierte im Alter von 17 Jahren. Dabei raucht sie eine Zigarette nach der anderen. „Soweit ich zurückdenken kann, hat es niemanden gegeben, der mir hätte da heraushelfen können.“ Ein Sohn aus dieser Zeit lebt bei Pflegeeltern, eine Tochter hat sie zur Adoption freigegeben. Der Alkohol vermochte nichts zu lindern, es wurde nur schlimmer. Sie hat jemanden getötet.

Seit 1986 ist sie in Haft. Der Blick zurück auf ihre Vergangenheit ist so grau wie der Gefängnishof, der Ausblick in die Zukunft so milchig wie die Panzerglastür, die sich irgendwann öffnen soll. „Wenn ich jemals jemanden umbringen wollte, dann jedenfalls nicht den.“ Mehr möchte sie nicht sagen.

Die Gefängnis-Insassin sieht oft aus dem vergitterten Fenster. Bis zum nächsten bürgerlichen Wohnblock sind es vielleicht 50 Meter - in Abschnitte unterteilt durch Zäune, Natodrahtrollen und nachts von Scheinwerfern taghell ausgeleuchteten Sicherheitsstreifen. Da-hinter liegt der Teil der Stadt, den Margarete Zobel kurz „draußen“ nennt. Vom Leben dort hinter den mit Gardinen verhüllten Wohnzimmerfenstern, hat sie nur eine diffuse Vorstellung. Sollte die verbleibende Strafe demnächst, wie in der Praxis üblich, zur Bewährung ausgesetzt werden, möchte sich die Mutter mit Deborah „draußen“ einer Wohngruppe für Alleinerziehende anschließen. Eine Bewährungshelferin würde sie dabei unterstützen. Mit aller Kraft möchte sie sich dann um einen Kindergartenplatz und irgendeine Arbeit kümmern, um nicht langfristig von der Sozialhilfe leben zu müssen. “Ich muß es allein schaffen“, sagt die Frau, die immer in Abhängigkeiten gelebt hat.