Auf glücklicher Fahrt

■ Mit der Musikfestdampfschiffahrtsgesellschaft und dem Brodsky Quartet auf der MS „Meissen“ in Bremerhaven

Musikhören setzt bekanntlich assoziative Prozesse in Gang. Die Töne, deren Satz oft selbst außermusikalischen Gegenständen entsprang, wollen sich im Kopf des Hörers zurückverwandeln. Der Ort des Musizierens und Hörens bestimmt dabei die Richtung dieses Prozesses.

Am Donnerstagabend lud Professor Albert, der Musikfestdampfschiffahrtsgesellschafts-Kapitän ins Bremerhavener Schiffahrtsmuseum. An Bord des Elbe-Ausflugsdampfers „Meissen“ musizierte das Brodsky Quartet, für die auf drei Decks plazierten Passagiere. Das Programm war voll binnen- schifftauglich.

Zunächst ging's auf Vergnügungsfahrt auf der Oder. Der junge Pole Pawel Szymanski hat jüngst ein kleines wohlklingendes fünf-sätziges Werk für Streichquartett komponiert. Auf dem Heck klang es wie „Die fünf Tageszeiten auf dem Flusse“. Mittags ging's los. Die mächtigen Schaufelräder durchfurchten den gelassen, aber stetig dahinströmenden Strom, Glissandostrudel hinter sich herziehend. Der Nachmittag blieb der kontemplativen Betrachtung des heiteren Spiels der überlebenden Flußfische, deren lustige, choreographisch exakt gestaltete Luftsprünge nicht eindeutig gedeutet werden konnten. Sprangen sie aus Atemnot oder zur Unterhaltung der Ausflügler?

Mondaufgang auf der Oder. Ein schönes Bild. Auf nachtschwarzem Strom kräuselten sich in milder Brise silbern die Wellen. Ein Nebelstreif am fernen Ufer entzückte die versunken an der Reeling verweilenden Fahrgäste. Anschließend lud der Kapitän zum abendlichen Dinner, das zunächst von einem concerto grosso begleitet wurde. Dann gab's Schwoof, bei dem die Kapelle mit Philipp-Glass'schen Minimalismen selbst die Besatzung so in trancehafte Rotation versetzte, daß sie dem morgendlichen Weckruf des Obermaates erkennbar schwer folgen konnte.

Nach dieser unterhaltsamen postmodernen Tour sahen wir uns durch Franz Schuberts frühes B-Dur-Quartett an die schöne blaue Donau versetzt. Zügig ging's mit eigentümlich beschwingter Melancholie durch die herbstliche Flußlandschaft. Natürlich wurde an einer (Heurigen-) Gastwirtschaft Station gemacht, wo uns eine Tanzkapelle mit einem heiteren, aber etwas täppischen Ländler erfreute.

Nach der dem Bestaunen maritimer Exponate gewidmeten Pause fanden wir uns in exotischen Gewässern wieder. Janier Alvarez, ein mexikanischer Zeitgenosse, zeigte uns am Beispiel einer Metro-Station seiner Metropole, wie Menschenmassen sich im steten Fluß auf unterschiedliche Perrons verteilen. Doch die wogenden Menschenmassen hatten ein kenntliches Gesicht, das uns sicher machte, nicht in London oder Moskau zu sein. Cello, Bratsche oder Geigen, erhoben sich in Fiestarhythmus aus dem geschäftigen Strudel.

Mit der kammermusikalischen Flußreise nahm es dann ein jähes Ende. Schostakowitschs Drittes Streichquartett, 1946 entstanden, ließ die MS „Meissen“ samt Columbuscenter versinken. Das Brodsky Quartet blätterte für uns in Dmitrijs intimem Tagebuch. Fröhliches, Banales und Chaplineskes wußte der erste Satz aus dem Nachkriegsalltag zu berichten. Des Schreibers Gedanken verdunkeln sich, erste Töne werden angeschlagen, Atemnot löst Beklemmung aus. Erzwungenes Nachdenken führt zur Beruhigung. Ein marschartig gepeitschtes Scherzo, ein schmerzlicher kammermusikalischer Nachklang der apokalyptischen Kriegsmaschinerie seiner Achten Sinfonie spiegelt schmerzhaft das Leben unter Zwang und drohender Gewalt wieder. Auch diesen Einbruch der Außenwelt überwindet der Tagebuchschreiber. Er notiert ein weitgeschwungenes, ausdrucksvolles Adagio zur Bewältigung des Schreckens und wendet sich dann wieder gekräftigt dem Alltag zu.

Leise und behutsam schließen die vier Musiker das Buch, ein bißchen betroffen, denn eigentlich ist es nicht für vergnügungssuchende Kreuzfahrer bestimmt.

Diese aber bedanken sich für diesen drängenden Einblick in die Seele eines Musikers, der wie kein anderer unser Jahrhundert dargestellt, verarbeitet und reflektiert hat, Daß das Brodsky Quartet mit britischem Charme und äußerster Professionalität, mit sichtlichem Vergnügen und großem Ernst musizierte, dabei jeder musikalischen Phrase den ihr eigenen Ton gab und trotz schlechter Akustik ein präzises, aber warmes Klangbild unter Meidung allzu greller Lichter erzeugte, versteht sich von selbst.

Mario Nitsche