Lehrer mit moralischem Takt

Ein im Geiste Pestalozzis gedachtes Buch will den verwalteten Schüler befreien  ■ Von Rainer Werner

Es kommt selten vor, daß man aus der Flut der pädagogischen Veröffentlichungen ein Buch vorbehaltlos anpreisen kann. Hier sei es getan. Gerhard Fels hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das in jedem Kapitel scharfsinnige Fragen stellt und sie auch – meistens gegen den herrschenden Mainstream – klug beantwortet. Hier tischt kein Didaktikprofessor zum x-ten Male seine Standardthesen zur Schule auf. Hier salbadert kein Schulpolitiker etwas von Sachzwängen, die angeblich für das schulische Tun so heilsam seien. Nein – hier schreibt sich ein Schulpraktiker seinen Frust von der Seele. Dabei stellt er den Schüler, um den sich Schule ja drehen soll, in den Mittelpunkt. Fels sieht ihn umzingelt von einem Verhau aus Vorschriften und Regularien, hinter denen das immer mehr verschwindet, was Schüler in der Schule suchen: geistige Lenkung und moralische Leitung durch einen kompetenten und warmherzigen Pädagogen.

Die „Bereinigte Amtliche Sammlung der Schulvorschriften von Nordrhein-Westfalen“ (BASS) zum Beispiel hat 1.224 Seiten und wiegt 1,33 Kilo. Schule braucht anscheinend heute ein papiernes Fundament vom Ausmaß des Telefonbuches einer mittleren Großstadt. Fels spricht sarkastisch vom „bürokratisch-parlamentarischen Komplex“, der – auf der Suche nach der unerreichbaren Gleichheit – eine Regelungswut entfaltet habe, im Vergleich zu der die Eurokraten wahre Abstinenzler seien. Dieses „Brüssel-Syndrom“ der Schulbürokraten führe zu einer totalen Verrechtlichung der schulischen Tätigkeit. Weil die Probleme kompliziert und die Lösungen mannigfaltig sind, werden die getroffenen verwaltungsrechtlichen Regelungen immer filigraner und kodierter, so daß sie nur noch von wenigen Spezialisten unter den Lehrern zu verstehen sind. In manchen Erlassen muß man mit der Lupe suchen, um hinter dem Gestrüpp der Juristizismen ein pädagogisches Wort zu entdecken. Die Urteile, die Fels aus eigener Schulleitertätigkeit über die Schulbehörden fällt, sind „ätzend“ scharf: „Den ,Don Juans des ewig Formalen‘ ist Inhaltliches nicht mehr zuzumuten. Sie erheben keinen Anspruch mehr, Sinnvermittler zu sein. Wie die Dinge liegen, haben Schulbehörden geistige Autorität längst aufgegeben.“

Jeder, der in Berlin an der Schule tätig ist, kann aus eigenem Erleben diese Sätze mit Leben füllen. Ein Beispiel nur: Dieselbe Schulverwaltung, die noch vor Jahren die Stundentafel für das Fach Deutsch rigoros zusammengestrichen hat, muß nun eine „Offensive in der Beherrschung der deutschen Sprache“ starten. Ohne jedoch den nötigen Raum für Üben und Wiederholen einzuräumen, wird die Zahl der Klassenarbeiten und Klausuren (!) erhöht, als lernten die Schüler durch Erhöhung des Leistungsdrucks ihre Muttersprache.

Einen breiten Raum des Buches nimmt – dem Titel getreu – die Frage ein, welcher Umgang mit Jugendlichen heute der richtige sei. Zuerst skizziert Fels die einzelnen Phasen der Jugendlichkeit und die damit verbundenen Verhaltensweisen. Er sieht dabei nichts grundsätzlich Neues, keinesfalls durchgängig Negatives, wie es manche Medien in ihrer Fokussierungsmanie glauben machen wollen. Diese Passagen des Buches, die zu den stärksten gehören, atmen eine Gelassenheit, die sich wohltuend von dem schrillen Alarmismus abhebt, in den selbst viele Lehrer verfallen.

Fels plädiert für eine Einheit von Unterrichten und Erziehen. Bei aller Begrenztheit des schulischen Einflusses auf Jugendliche solle die Schule auf moralische Urteile nicht verzichten. Skeptisch geht Fels mit solchen Strategien ins Gericht, die versuchen, unter dem Stichwort von der „ermutigenden Pädagogik“ die „hinterste Bank“ zur Richtschnur des Unterrichts zu erheben oder die Schule ganz auf das Vermeiden von Frustrationen abzustellen. Über den Schlüsselsatz des Buches sollten alle Lehrer, die mitunter an ihrem Tun (ver)zweifeln, nachdenken: „Realen Einfluß auf kindliches Verhalten haben nur Angst vor Strafe, Achtung vor Autorität und Liebe.“

Das ist realitätstüchtig gemachter Pestalozzi. Diese pädagogische Formel zeigt jedoch auch das Dilemma. Da die schulischen Strafkataloge heutzutage sehr reduziert sind und niemand zu den alten Schulmeisterpraktiken zurückkehren will, bleiben nur die beiden letzten Motive. Da man Liebe nicht verordnen kann, sie außerdem nie auf alle Kinder, die einem anvertraut sind, gleich verteilen kann, bleibt die Frage nach der Autorität. Amtsautorität kann ein Lehrer heute nicht mehr erwarten. Die Schüler erkennen nur an, „wie der einzelne Lehrer sich einbringt“. Dabei ist mancher Lehrer sich selber im Wege. Fels geht davon aus, daß „rund die Hälfte der sogenannten Disziplinarfälle letztlich durch den Lehrer selbst induziert (werden)“. Autorität sei „ein Konglomerat aus moralischem Takt und Sachkompetenz“. Wo aber ist die Lehrerausbildung, die in der Lage wäre, dieses Konglomerat nach der Rezeptur von Gerhard Fels herzustellen?

Gerhard Fels: „Der verwaltete Schüler. Ein Bericht aus dem Schulalltag“. C.H. Beck Verlag, München 1994, 168 S., 16,80 DM