Gerangel um die erste Stimme

■ „Wollen Sie ein Bild? Von mir?“ / Direktkandidaten auf dem Weg nach Bonn/ Episoden eines Wahlkampf-Wochenendes, gesammelt von Uli Exner

Tag der Deutschen Einheit, 3. Oktober 1994, 12.19 Uhr. Die taz-Redaktion erreicht ein Fax der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, SPD, Kreis Hamburg Nord. Letzte Meldung eines verlängerten Wahlkampfwochenendes. Darin ...

Poppenbüttel, zwei Tage zuvor. In der Rotunde des Alster-Einkaufszentrums, eingeklemmt zwischen Rolltreppe, Peek + Cloppenburg und dem Tabakspfeifenhaus Timm sitzen Dirk Fischer, CDU, Wolfgang Curilla, SPD, Krista Sager, Grüne, und Martin Kirchner, FDP. Die vier rangeln um das Direktmandat im Wahlkreis 15, Hamburg-Nord. Genauer gesagt rangeln nur drei, der vierte, Kirchner, hat keine Chance – und nutzt sie mit Wahlkampfversprechen: "Die FDP wird die Steuern senken,“ verkündet er, „und dafür sorgen, daß die Steuern nicht erhöht werden.“

Wie Kirchner ergeht es den meisten Direktkandidaten. 51 Männer und Frauen haben die in Hamburg zugelassenen Parteien nominiert, nur zehn haben eine reale Chance, ihre Wahlversprechen eines Tages auch einlösen zu müssen, eines der sieben Hamburger Direktmandate zu gewinnen. In fünf Bezirken – Harburg, Bergedorf, Eimsbüttel, Wandsbek und Mitte – sind Siege der SPD-Kandidaten programmiert. Wie bei – fast – jeder Wahl seit 1949. Neben Hamburg-Nord umstritten: der Wahlkreis Altona, wo sich außer der SPD-Kandidatin Marliese Dobberthien auch CDU-Herausforderer Eckart van Hooven Hoffnungen machen kann.

In Altona streiten sich am Sonntagabend der Grüne Jo Müller und die SPD-Kandidatin Marliese Dobberthien über Sinn und Zweck einer grünen Erststimmenkampagne. Bewundernswert: Fast 50 Zuhörer harren wacker aus, nur ganz vereinzelte Unmutsäußerungen unterbrechen zweieinhalb Stunden Langeweile. Ergebnis der „Debatte“: 1. Jo Müller wertet CDU-Kandidat Eckart van Hooven durch gemeinsame Veranstaltungen auf (SPD). 2. Die Grünen in Hamburg wollen nicht mehr Juniorpartner der SPD sein (GAL). 3. Inhaltliche Differenzen zwischen Müller und Dobberthien sind kaum auszumachen.

Wolfgang Curilla müht sich redlich. Fein säuberlich, allgemeinverständlich gar, versucht der SPD-Kandidat Zuhörern im Alster-Einkaufszentrum den Unterschied zwischen Solidaritätszuschlag (CDU) und Ergänzungsabgabe (SPD) zu erläutern. Und wird dabei unsanft abgewürgt: „Sehr viele kleine Zahlen ...“, unterbricht der Moderator Curillas Erläuterungen, der Ex-Senator sei halt ein Finanzexperte. Bloß weg von derartigen Details, nachher kapiert's noch einer. Da hüpft der geübte Diskussionsleiter doch lieber rechtzeitig auf die großen Wahlkampfschlachtfelder –94: Also, Curilla, wie hält es die SPD denn nun mit der PDS?

Eimsbüttel. Osterstraße. Durch den Einkaufs-Rummel bahnt sich das Uldall-Team. Sechs Mitglieder der Jungen Union, weiße T-Shirts, roter Aufdruck, umkreisen den örtlichen CDU-Kandidaten Gunnar Uldall. Der bemüht sich um Bürgernähe. „Wollen Sie ein Foto? Von mir?“ Ach danke, muß nicht sein.

Ein paar Meter weiter wirbt die GAL-Eimsbüttel für ihren Kandidaten, um die Zweitstimme und für Kartoffelsuppe. Lauwarm. Zu lesen gibt's das Parteiblättchen GAL Intern. Darin ein Antrag des Kreisvorstands der GAL Nord, in dem gefordert wird, vier der zehn Vorstandsmitglieder bei der nächsten Landesmitgliederversammlung abzuwählen. Wegen unbotmäßigen Wahlkampfs sozusagen. Die vier hatten in einem – ironisch gemeinten – Brief an SPD-Chef Jörg Kuhbier die Nominierung gemeinsamer rotgrüner Direktkandidaten vorgeschlagen. Das Schreiben war mit den übrigen sechs Landesvorstandsmitgliedern nicht abgestimmt.

Nord-Direktkandidatin Krista Sager fetzt sich derweil mit CDU-Chef Dirk Fischer über die Formulierung „Auflösung der Nato“ im grünen Wahlkampfprogrammheftchen. „Flegelhaft! ... Frau Sager, sagen Sie die Wahrheit!“ – „Herr Fischer, zeigen Sie mir Ihre Flugblätter!“ – „Hier steht es schwarz auf weiß!“ Für Minuten stagniert bei Peek + Cloppenburg der Umsatz.

... darin wird Hamburgs Redaktionen folgende Mitteilung gemacht: „Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und Deutschlands bekannteste Naturschützerin Loki Schmidt, die bekanntlich in Langenhorn, also im Wahlkreis 15, wohnen, unterstützen den Direktkandidaten der SPD für den Deutschen Bundestag, Wolfgang Curilla. Dies geschieht dadurch, daß erstmalig Loki und Helmut Schmidt gemeinsam ihre Wertschätzung für einen Direktkandidaten öffentlich zum Ausdruck bringen.“ Whow!